Die blaue Liste
Sprachen?«
»Ja, Französisch sehr gut, Spanisch passabel, ein wenig Italienisch und kein Wort Griechisch.«
So eröffnete er die Unterhaltung. Nach zwei Stunden wirkte die alte Dame erschöpft. Kleine Schweißperlen bildeten sich um
Nase und Stirn; Dengler unterbrach das Gespräch.
»Sie mögen Ringelblumen wohl sehr«, sagte er und wies auf die beiden großen Sträuße, die rechts und links des Fensters in
zwei gleich aussehenden chinesischen Vasen standen.
»Ja sehr, es sind die Lieblingsblumen meines verstorbenen Mannes. Er malte mir sogar einmal ein Bild eines Ringelblumenstraußes
– wollen Sie es sehen?«
Dengler nickte und folgte Frau Stein in den hinteren Teil der Wohnung. In einem kleineren Raum, Georg vermutete das Esszimmer,
hing ein Ölgemälde in einem breiten und reichlich verzierten Goldrahmen. Die Blumen auf dem Gemälde bogen sich weit nach allen
Seiten, als wollten sie aus der Vase fliehen. Das Licht fiel von rechts oben auf die Anordnung und hüllte das Bild in eine
weiche Frühlingsstimmung.»Ihr Mann war wohl nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Künstler?«
»Na ja, er ging in seiner Arbeit als Wirtschaftswissenschaftler ganz auf, aber am liebsten wäre er doch Musiker geworden.«
»Sie sagten mir – er spielte Bratsche.«
»Leidenschaftlich! Aber er wusste, dass er nicht gut genug spielte, zum Berufsmusiker reichte es nicht.«
»Spielte er denn einmal in einem Orchester?«
»Nein, dazu fehlte ihm leider der Mut, obwohl er sehr gerne einmal mit einem bestimmten Ensemble gespielt hätte.«
»Welchem?«
»Kennen Sie das Freiburger Barockorchester?«
»Nein, leider nicht.«
»Es wurde vier Jahre vor dem Tod meines Mannes gegründet. Paul liebte Barockmusik. Und dieses Orchester spielt Barockmusik
auf original alten Instrumenten.«
Sie gingen zurück in den Salon.
Sie setzten sich, und Dengler stellte die verbliebenen Fragen seines Kataloges. Über die Arbeit ihres Mannes bei der Treuhand
wusste sie nichts. Oder wollte sie nichts sagen.
»Fragen Sie doch die Sekretärin meines Mannes. Sie lebt in Berlin«.
»Wie heißt Sie? Haben Sie Ihre Adresse und Telefonnummer?«
»Sie heißt Iris Herzen. Ich werde sie anrufen und Ihnen sagen, ob sie Sie empfängt.«
Dengler nickte und notierte sich den Namen: Iris Herzen. Später rief sie ihm ein Taxi, das ihn zum Bahnhof Dammtor brachte.
Nachts um drei kam er in Stuttgart an. Er lief zu Fuß vom Bahnhof ins Bohnenviertel. Als er vor dem Basta stand, schaute er hinauf zu Olgas Wohnung, aber er sah kein Licht mehr; sie schlief sicherlich schon.
Auf dem Anrufbeantworter warteten zwei Nachrichten:Jürgen Engel bat um einen Rückruf beim BKA, und Christiane Stein wollte wissen, ob ihm ihre Mutter gefallen habe. Dengler
ließ sich ins Bett fallen. Sein Kreuz schmerzte. Die Fledermäuse gesellten sich bereits im Halbschlaf zu ihm.
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33
Um sieben Uhr saß er bereits an seinem Schreibtisch und wusste nicht, was er tun sollte. Für die Rückrufe bei Engel und Christiane
Stein war es noch zu früh.
Er überdachte das Gespräch mit der Frau seiner Zielperson. Paul Stein schien das Idealbild eines Ehemanns zu sein, liebevoll
und sorgend gegenüber seiner Frau, erfüllt von seinem Beruf und gleichzeitig Liebhaber von Literatur (am liebsten las er neuere
amerikanische Romane), er malte und musizierte. Barockmusik! Wie das wohl klang? Bestimmt hatte das Orchester eine Homepage,
vielleicht gab es dort eine Hörprobe. Dengler startete den Rechner und rief die Seite der Citibank auf. Sein letztes Gehalt
war immer noch nicht angekommen. Dann rief er www.google.de auf. Er tippte »Freiburger Barockorchester« in die Suchmaschine.
Selten ist ein Ensemble so zügig auf Erfolgskurs gegangen wie das Freiburger Barockorchester (FBO). Längst hat das FBO die
Nische Alte Musik verlassen und zählt im allgemeinen Vergleich zu den international gefragtesten Kammerorchestern. Dabei zeigen
die Freiburger mit offensichtlichem Spaß an musikalischer Gestaltung, dass Musik mit historischen Instrumenten nicht nur auf
professionell höchstem Niveau, sondern auch lustvoll gespielt werden kann. Wie wenig alte Musik bei dieser Art zu musizieren
also übrig bleibt, beschrieb ein Kritiker anlässlich der Freiburger CD mit Vivaldis Vier Jahreszeiten: »Das ist Avantgarde
pur.«
Keine Hörprobe. Er klickte die Rubrik »Termine« an. Das Orchester befand sich gerade auf einer Europatournee; morgen würde
es in Wien
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