Die blaue Liste
erinnern sich sicher an die Krise von Voechst Alpine, des größten
österreichischen Unternehmens, und leider in Staatsbesitz, was ihm nicht gut bekommt. Dieses Werk, Sie erinnern sich vielleicht
an die Presseberichte vor einiger Zeit, war pleite. Die Sanierung würde den Steuerzahler riesige Summen kosten. Unser Institut
entwickelte einenSanierungsvorschlag, der vorsah, das Unternehmen nicht an irgendeinen Investor zu verscherbeln, sondern der Belegschaft zu
schenken. Wir wurden für dieses Modell ausgelacht.«
Bitterkeit lag nun in seiner Stimme.
»Ausgelacht wurden wir, landauf, landab. Auch von der SPÖ und den Gewerkschaften. Dabei fußte unser Vorschlag auf den exakten
Analysen und Erkenntnissen, die wir in Matrei gewonnen hatten. Aber gegen die unterschiedlichen Interessen kamen wir nicht
an. Die einen wollten billig privatisieren, die anderen den gleichen unhaltbaren Zustand beibehalten -und alle waren sich
daher einig, unseren vernünftigen Vorschlag der Lächerlichkeit preiszugegeben. Damals lernten wir: Es geht hart zu, wenn es
um Eigentum geht, sehr hart; und nicht immer ist der beste Vorschlag der willkommenste.« Die Studenten starrten ihn an. Sie
waren sensibel genug, die Verletzung zu spüren, die Paul Stein immer noch mit sich herumtrug.
Doch dann hob sich Jan Mosers Finger erneut.
»Herr Professor«, sagte er, »die Vereinigung Deutschlands steht bevor. Die Regierung Modrow in Berlin hat das Eigentum aller
Betriebe der DDR in einer Behörde zusammengefasst. Wäre Ihr Modell nicht auch für die jetzt zu erwartende Umstellung in der
DDR ein Vorbild?«
Da war sie also, die Frage. Stein überlegte sich die Antwort lange.
»Das Modell der Produktivgenossenschaften funktioniert am besten in schlechten Zeiten. Mit keinem anderen mir bekannten Modell
wären die Beschäftigten bereit, so große Anstrengungen und so enorme Entbehrungen gleichzeitig auf sich zu nehmen.«
»Aber dann passt es doch«, rief Moser, »warum soll das dort nicht funktionieren?«
Die einsetzende Klingel beendete die Vorlesung. Die Studenten sprangen auf und bewahrten Stein davor, diese letzte Frage beantworten
zu müssen.
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32
Christiane Stein brachte ihn zum Bahnhof. Der ICE würde Stuttgart kurz vor halb zehn Uhr verlassen und fünf Stunden später
Hamburg erreichen.
»Ich habe meiner Mutter nicht gesagt, dass mein Vater vielleicht noch lebt. Es würde sie zu sehr aufregen.«
»Und welche Legende haben Sie sich für mich ausgedacht?«
»Sie sind ein Kollege, ein Dokumentarfilmer. Sie recherchieren über Ökonomen, die bei der Treuhand gearbeitet haben. ›Volkswirte
der Einheit‹ heißt der Film, den Sie planen.«
»Eine Legende muss wasserdicht sein. Ich verstehe nichts vom Filmen. Da wird sie mir schnell auf die Schliche kommen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen – ich habe Sie als Hilfskraft angekündigt.«
»Als Hilfskraft – von wem?«
»Von mir – Sie recherchieren für mich. Ist ja nicht gelogen, oder?«
Er brummte etwas vor sich hin. Eine Legende, die er sich nicht selbst gestrickt hatte, passte ihm nicht. Aber vielleicht hatte
sie Recht – in diesem Fall würde es niemand bemerken. Er warf seine Reisetasche über die Schulter und stieg in den wartenden
Zug. Christiane wartete, winkte ihm kurz zu, dann ging sie.
Dengler verbrachte die Fahrt im Speisewagen. Er überflog die Fragen, die er Christianes Mutter stellen wollte, verbesserte
und ergänzte die Liste. Hinter Fulda schlief er ein, den Kopf an die Scheibe gelehnt, aber die Träume meinten es diesmal gut
mit ihm; die Fledermäuse flogen neben dem Zug her und wachten über seinen Schlaf.
* * *
Taxi vom Hauptbahnhof in die Sierichstraße. Christianes Mutter bewohnte eine große Wohnung in der Nummer 72, die ihre Eltern
noch vor dem Krieg gekauft hatten. Sie führte Dengler in einen Salon, brachte Tee und Kekse, bevor sie sich auf einem grünen
Sessel niederließ. Sie sah ihn erwartungsvoll an, und Dengler stellte die ersten Fragen.
»Wenn Ihr Mann noch leben würde und frei wählen könnte, in welchem Land er leben wolle – was glauben Sie, welches würde er
wählen?«
»Österreich natürlich – und in Österreich unbedingt Innsbruck, das war immer die schönste Stadt der Welt für ihn.«
»Und außerhalb Österreichs?«
»Würde er sicherlich ein südliches Land wählen. Spanien oder Südfrankreich, vielleicht aber auch Italien oder Griechenland.«
»Sprach er einige dieser
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