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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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das nicht in
     der Tabelle erfasst war. Auf dem zweiten Bild konnte er erkennen, es handelte sich um mehrere Seiten, die mit einer Büroklammer
     zusammengehalten wurden. Er vergrößerte das Bild, aber es gelang ihm nicht, den Text zu lesen. War das nun die Blaue Liste,
     von der Iris Herzen gesprochen hatte? Er wusste es nicht, aber er hatte keine Erklärung dafür, warum dieses Dokument nicht
     in den BKA-Unterlagen erfasst war. Zweifel blieben.
    Dengler prüfte erneut die Tabelle. Sie führte das Schriftstück nicht auf, obwohl sie 321 Positionen umfasste. Dengler studierte
     sie alle; der Teppich, der Tisch – einfach alles war detailliert aufgeführt. Auch die Dinge auf dem Schreibtisch hatten die
     Kollegen fein säuberlich notiert: ein kristallener Füllfederhalter, ein Locher, der silberne Rahmen mit Familienfotos.
    Konnte es sein, dass er früher das Fehlen des Dokuments in der Tatortsbestandstabelle übersehen hatte? Das wäre ihm aufgefallen!
     Aber vielleicht ist mir dieser Fehler doch unterlaufen. Aber wenn das Papier früher in der Tatortdokumentation stand und jetzt
     nicht mehr, dann musste es jemand gelöscht haben.
    Warum?

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    41
    Dengler überlegte einen Augenblick und rief dann die Auskunft an. Es überraschte ihn, dass Dr. Schweikerts Nummer so einfach
     zu erfragen war.
    »Darf ich Sie nach der Ansage gleich weiterverbinden?«, fragte die weibliche Stimme.
    »Ja, bitte.«
    Nach zweimaligem Läuten meldete sich Dr. Schweikert, als habe er gerade auf einen Anruf gewartet. Er schien sich zu freuen,
     als er Denglers Stimme erkannte.
    »Und, sind Sie noch bei der Truppe?«, wollte er wissen. »Nein, ich habe mich selbstständig gemacht, bin immer noch Ermittler,
     aber privater.«
    »Schwieriges Brot«, Schweikert pfiff durch die Zähne, und Dengler grinste am anderen Ende der Leitung. Sein Chef hatte sein
     Wahrzeichen, diesen atmenden Pfiff durch die Zähne, mit in Pension genommen.
    Schweikert fuhr fort: »Ich bedauere, dass das BKA Sie verloren hat. Sie waren, entschuldigen Sie, Sie sind ein guter Fahnder. Ein bisschen zu ehrlich vielleicht.«
    »So wie Sie. Was ich in Wiesbaden gelernt habe, habe ich von Ihnen gelernt.«
    »Na ja«, Schweikert hüstelte verlegen, »Sie haben mich bestimmt nicht angerufen, damit wir Komplimente austauschen.«
    »Nein, ich brauche Ihren Rat.« Kleine Pause.
    »Ich ermittle in einer Sache, die ich nicht verstehe und die vielleicht eine Nummer zu groß für mich ist.«
    Er legte erneut eine kleine Pause ein und überlegte, wie er seinem früheren Vorgesetzten den Fall Stein schildern könne. »Erinnern
     Sie sich an den Absturz einer Maschine der Lauda-Air im Mai 1991?«Dr. Schweikert pfiff durch die Zähne.
    »Da haben Sie sich aber ein Ding vorgenommen.«
    »Wissen Sie etwas über dieses Unglück?«
    Dr. Schweikert überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Wissen Sie was, Dengler, kommen Sie nach Freiburg, besuchen Sie
     mich. Freiburg ist nicht nur für pensionierte Kriminalbeamte eine schöne Stadt. Und ich würde mich freuen, Sie wiederzusehen
     – nach all den Jahren.«
    Sie verabredeten sich für den übernächsten Abend im Mark-gräfler Hof, und Dengler legte den Hörer auf.
    * * *
    Zwei Tage später kam Georg Dengler mit dem ICE Sybille Merian bereits am Mittag in Freiburg an. Wie lange war es her, dass
     er in dieser Stadt gelebt hatte? Zehn Jahre, wahrscheinlich länger.
    Damals in Altglashütten, aus der Kinderperspektive gesehen, hatte die Stadt Freiburg etwas Sonntägliches, etwas, das großer
     Vorbereitung bedurfte und einer gebügelten Hose sowie eines frischen Hemdes, etwas, das der kleine Junge am besten fest an
     der Hand der Mutter betrat. Sie fuhren häufig sonntags mit der Bahn hinunter und mussten, aufregend genug, in Titisee einen
     größeren Zug nehmen.
    Sie stiegen manchmal schon in Littenweiler aus, um den Rest der Strecke mit der Straßenbahn zurückzulegen. Zunächst empfand
     er die Menschen in der Tram als fremd und merkwürdig, da sie völlig anders gekleidet waren als er oder irgendjemand in Altglashütten,
     das galt auch für die Kinder in seinem Alter. Dann aber, durch ihre schiere Überzahl in der Straßenbahn und erst recht in
     der Stadt, als sie am Bertholdsbrunnen ausstiegen, wuchs in ihm zunächst der Verdacht und dann die Gewissheit, dass er es
     war, der anders war als die anderen, kleiner auf jeden Fall; das Wort geringer fieldem Kind noch nicht ein, und doch war es genau das, was er fühlte. Noch vor

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