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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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einer Stunde war er stolz auf seine braune Sonntagshose
     gewesen; jetzt hätte er sie sich am liebsten vom Leib gerissen.
    Zum ersten Mal in seinem Leben sah er auch seine Mutter anders, nicht mehr als den selbstverständlichsten Teil seiner selbst,
     sondern mit den Augen der anderen, die ihr steifes, schwarzes Kostüm mit dem kürzesten Blick prüften, den er je gesehen hatte.
     Einen Atemzug lang schämte er sich für seine Mutter und löste seine Hand aus der ihren. Doch sofort, Dengler erinnerte sich
     genau, als er den Freiburger Bahnhof verließ, um auf die überfüllte Eisenbahnstraße zu treten, übermannte ihn eine Welle der
     Scham über diesen Verrat, sodass er sie von vorn umklammerte, den Kopf in ihren Rock verkroch und seine erste Liebeserklärung
     mehr stammelte als sprach.
    Später wurde ihm die Stadt vertraut und die Mutter fremd. Vielleicht, dachte er, als seine Schritte ihn über die Kaiser-Josef-Straße
     zum Münsterplatz lenkten, lag es an der Musik.
    Der alte Lehrer Scharach, der alle Kinder des Ortes in einem einzigen Raum unterrichtete, die oberen Klassen vormittags und
     die Schüler bis zur vierten Klasse nachmittags, hatte der Mutter geraten, den Jungen auf die Realschule in die Stadt zu schicken.
     Nun musste er sich im Kreis neuer Freunde bewähren, nach Regeln, die er seiner Mutter nicht erklären konnte. Er fand schnell
     heraus, dass die Jungen, die am meisten verachtet wurden, die Rattles und die Lords gut fanden, dass die Beatles-Liebhaber
     die breite Masse bildeten, über die die Rolling-Stones-Anhänger jedoch die Nase rümpften. Eine kleine Gruppe von älteren Schülern,
     nicht mehr als drei oder vier, hielt ihren Musikgeschmack geheim. Von ihnen hieß es, dass sie selbst in einer Band spielten
     und samstags im Keller von Ritchies Eltern probten. Darüber, was Ritchie und seine Freunde hörten, gab es in der Klasse die
     wildesten Spekulationen. Nur einmal und sicher nur, um ihn zu demütigen,zischte Ritchie ihm beim Verlassen des Schulhofs zu, ob er schon mal etwas von John Mayall gehört habe.
    »Sicher«, log Georg und errötete sofort. Aber er merkte sich den Namen.
    Seiner Mutter berichtete er von diesen Unterschieden, halb stolz, weil er ihr etwas aus einer Welt erzählen konnte, die ihr
     fremd war, halb hintersinnig, damit sie endlich den Dual-Plattenspieler kaufte, mit deren Anschaffung er ihr schon so lange
     in den Ohren lag. Schließlich gab sie nach, und zu Weihnachten packte er aus weiß glänzendem Papier mit grünen Tannenzweigen
     das innig ersehnte Gerät. Er wusste es wohl, und seine Mutter wiederholte es Mal um Mal, dass sie sich die Anlage »vom Mund
     abgespart« habe. Ihr leichtes Seufzen, wenn er stolz über das durchsichtige Plastik der Abdeckhaube strich, die bittere Leidensmiene,
     wenn er den Schwenkarm anhob, machten ihm unmissverständlich klar, dass für ihn Freude nicht ohne Schuld zu haben war.
    Deshalb spielte er ihr geduldig »Satisfaction« von den »Stones« vor, wie er die Band mittlerweile fachkundig nannte, als abschreckendes
     Beispiel präsentierte er ihr »Hoppla Di, Hoppla Da« von den Beatles und als Krönung »Turning Point« von John Mayall mit dem
     zehnminütigen Mundharmonikasolo in »Room To Move«. Sie verstand die Unterschiede nicht, und so legte er erneut beharrlich
     die Platten auf, erklärte ihr, was er wusste oder ahnte, doch wenn er zu ihr hinsah, erkannte er nur stummes Grauen in ihren
     Augen. Zwei Tage später teilte sie ihm mit, dass sie ihn von der Schule nehmen werde, und er sagte ihr ebenso ruhig, dass
     er nicht mehr in Altglashütten leben wolle, sondern künftig in der Stadt wohnen werde.
    Die Jahre in Freiburg waren schwierig. Mit Schüler-BaföG und kleinen Jobs hielt er sich notdürftig über Wasser, aber es reichte
     meist nicht. Schon nach kurzer Zeit brach er in Baubuden ein und stahl die leeren Flaschen. Mit dem Pfand besserte er seine
     Kasse um ein paar Groschen auf. Aber erst, alser mit einem Handbrecheisen Zigarettenautomaten aufbrach und die Münzen stahl, hatte er genug Geld, um bis spät in der Nacht
     in Webers Weinstube zu sitzen. Hier las ihn Romy auf, eine Medizinstudentin. Er kam von einem kleinen Raubzug zurück und hatte die Hosentaschen
     voller Markstücke. Später sagte sie, dass ihr das Verwegene an seinem Gesichtsausdruck gefallen habe.
    Dengler schloss die Augen und dachte zurück. »Ich werde dich schulen, mein kleiner Arbeiter- und Bauernheld«, sagte sie damals
     und

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