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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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sie gebeugt, bereits sehen konnte. Mit diesem Sturz hatte er nicht gerechnet, und er zog die Hand eilig
     fort. Etwas schien nicht zu stimmen, war falsch. In der Topographie ihres Körpers gab es fürderhin nur sanft anwachsende Berge
     und Hügel und keine schroffe Senkung. Romy jedoch nahm seine Hand und führte ihn sicher den kurzen Weg hinab und zeigte ihm
     jede Einzelheit dieses Tals der Glückseligkeit.
    Georg erschien es in jener Nacht, als schnurrte die ganze Welt auf die Größe von Romys Leintuch zusammen. Es schien ihm unwichtig,
     vielleicht sogar unwahrscheinlich, dass eine andere Welt jenseits dieses Bettes existierte.
    Was kann ein Mann in einer Nacht lernen? Im Rückblick, nach so vielen Jahren, wusste Georg Dengler nicht mehr, ob sich in
     seine Erinnerung an die eine Nacht nicht die Erfahrungen vieler Nächte mischten. Er wusste nicht einmal Auskunft zu geben,
     wie viele Tage, Nächte, Wochen sie sich in ihrer kleinen Wohnung trafen, um sich selbstvergessen zu lieben.
    Er fragte sich nicht, warum Romy häufig im Morgengrauen verschwand. Er schlief dann noch einige Stunden und verließ erst dann
     ihre Wohnung.
    Doch dann kam jener Morgen, als er sich unvorbereitet und schläfrig erkundigte, wo sie hinginge, es sei doch mitten in der
     Nacht, und sie unschuldig, ja fast fröhlich antwortete, sie ginge nun zu ihrem Freund.
    Herzstillstand, dachte Georg Dengler, damals blieb mein Herz einfach stehen. Oder war es die Lunge, die sich weigerte, weiter
     zu atmen? Er lag gelähmt in ihrem großen Bett, während sie sich unbekümmert anzog.
    Als sie sich zur Tür wandte und sich noch einmal umdrehte, erlebte er sie zum ersten Male wütend. Sie erklärte, dass sie sich
     von ihm keine Vorschriften machen lasse, und »sexuelle Freiheit« kam in ihrer Rede dreimal vor.An diesem Tag ging Georg nicht zur Schule, sondern lungerte um zehn in der Herrenstraße vor dem Buchladen Libro Libre herum. Als Hartmut erschien, um den Laden zu öffnen, sah er Georg nur kurz über seine Brille hinweg an und winkte ihn hinein.
     Georg kannte den jungen Buchhändler kaum; er hatte jedoch Romy dreimal begleitet, als sie hier einige bestellte Bücher abholte.
    Irgendwann sagte Hartmut: «Nun, du weißt es ... mit Romy?«
    Georg nickte, und Hartmut schloss den Buchladen. Sie gingen hinüber in die Eisdiele in der Herrenstraße, die er sonst nie
     besuchte, weil er Eisdielen nicht ausstehen konnte.
    Von Hartmut erfuhr er alles Weitere. Romy war seit Beginn ihres Studiums mit dem Anführer einer kleinen politischen Gruppe
     zusammen, in der sie auch Mitglied war. Beide studierten Medizin und würden bestimmt einmal gute Ärzte werden, sagte Hartmut.
    Als Romy und Georg sich das nächste Mal trafen, bestand Georg darauf, sie zu begleiten.
    »Klar«, sagte Romy.
    Sie setzte sich auf den Gepäckträger von Georgs rotem Mofa, und er fuhr sie grimmig durch die nächtliche Stadt. Romy saß hinter
     ihm, umklammerte ihn und doch spürte er sie kaum. Seine rechte Hand drehte den Gaszug so weit auf, dass sein Handgelenk schmerzte,
     und der kalte Fahrtwind verfing sich in seiner blauen Kunststoffjacke und blähte sie an beiden Seiten auf, als wären es kleine
     Segel.
    Sie dirigierte ihn den Lorrettoberg hinauf. Das Mofa kletterte nur widerwillig die Stefanienstraße hinauf. Oben, vor einem
     zweistöckigen Haus, vor dem er die Schatten eines verwilderten Gartens erkannte, rief sie »Stopp« und sprang vom Gepäckträger.
     Georg hielt an und stellte das Mofa ab. So standen sie vor der Treppe des Hauses, beide verlegen.
    »Komm mit«, sagte Romy schließlich, nahm seine Hand und führte ihn um das Haus zu einer kleinen Gartenpforte.»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie, küsste ihn und rührte sich nicht von der Stelle.
    »Wo wohnt er?«, fragte Georg.
    Romy wies auf ein Zimmer im zweiten Stock, in dem noch das Licht einer Schreibtischlampe brannte.
    Er wollte cool bleiben, aber plötzlich krallte er sich an ihr fest, riss sie an sich, küsste sie und bemerkte den salzigen
     Geschmack seiner eigenen Tränen kaum.
    Sie küsste ihn mit der gleichen wilden Verzweiflung zurück.
    »Komm, wir gehen zurück.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Dann geh jetzt zu ihm hinauf.«
    Sie schüttelte wieder den Kopf.
    Als er in die Stadt zurückfuhr, überdachte er seine Lage. Wenn er mit seinen Einbrüchen fortfuhr, würde er irgendwann einmal
     festgenommen werden. Und Romy?
    Als er das Mofa an der Wolfshöhle abstellte, wusste er, dass sein Leben eine neue

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