Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
Vom Netzwerk:
schlüpfte zu ihm unter die Bettdecke. Er wendete sich ihr zu, schloss die Augen und sein Gesicht folgte ihrem Duft.
    »Warum riechst du so gut?«, fragte er, und sie lachte leise.
    »Das Erste, was du lernen musst, mein edler Bauernkrieger, ist, dass der Kapitalismus nicht seit ewig da ist und auch nicht
     ewig bleiben wird«, flüsterte sie und biss ihm sanft ins Ohrläppchen, als wolle sie damit ihre Lektion vertiefen. Eine prickelnde
     kleine Welle löste sich von seinem Ohr, kreiselte über die Kopfhaut zu seinen Wangen und richtete die wenigen und kaum sichtbaren
     Haare auf seiner Brust auf.
    »Ganz am Anfang war der Urkommunismus«, wisperte sie, »es gab keine Herrschaft und keine Knechtschaft unter den Menschen.
     Manche sagen, dass die Frauen damals bestimmten.«
    Sie biss ihn erneut, und Georg konnte die Welle bis zu den Kniekehlen verfolgen.
    »Wenn es keine Herrschaft gibt«, sagte er schläfrig, »sollte niemand bestimmen, auch nicht die Frauen.«
    »Und jetzt das Wichtigste.« Diesmal verebbte der Schauer erst in seinem großen Zeh. »Diese Freiheit konnte nur entstehen,
     weil es kein Privateigentum an Grund und Boden gab. Jeder Stamm oder jede Gemeinde ..«
    »Dann weiß ich, wo es noch Reste des Urkommunismus gibt«, murmelte er.»Ja, es gibt Untersuchungen von Magret Mead über Gesellschaften in der Südsee ..«
    »Nicht in der Südsee«, unterbrach er sie, »in Altglashütten.«
    Sie lachte ihn aus und küsste ihn auf den Bauch, doch Georg Dengler erinnerte sich noch genau, wie er sich ernst zu ihr umdrehte
     und ihr nun von den Sommerwiesen erzählte, die allen Bauern im Ort gemeinsam gehörten. In jedem Frühjahr bezahlten sie zusammen
     einen Tagelöhner, der morgens ihre Kühe hinaustrieb und abends wieder zurück ins Dorf brachte. Die Kühe seiner Mutter trotteten
     immer am Ende der Herde, und Georg holte sie von der Straße ab, brachte sie in den Stall, wo seine Mutter schon mit Eimer
     und Melkschemel wartete.
    Romy lag still neben ihm.
    Er erzählte ihr von der Wärme der Tiere, ihrem Geruch nach Salbei und Butterblumen und der Geborgenheit im Stall zwischen
     den großen Tieren. Der Viehhirt bekam Kost und Logis frei; er wohnte immer abwechselnd bei einer Familie und nach vierzehn
     Tagen zog er zu der nächsten. Sein Taschengeld bezog er aus der Bauernkasse, in die jeder Hof einzahlte, der größere Bauer
     mehr und seine Mutter weniger.
    Er berichtete von den ernsthaften Gesprächen der Bauern untereinander, wie viel der Hirte in dieser Woche gegessen habe und
     wie wenig in der letzten Woche bei dem anderen Bauern.
    Und dann erzählte er ihr von der Pfarrstelle, einem Hof, der wie die Sommerwiesen allen Bauern des Ortes gemeinsam gehörte.
     Der Pächter der Pfarrstelle brauchte keine Pacht zu entrichten, aber er musste fünf Bullen unterhalten, zu denen die Bauern
     ihre Kühe treiben konnten, ohne dafür zu bezahlen.
    Georg erzählte und bemerkte nicht, wie die Schatten im Zimmer länger wurden.
    Irgendwann sah er sie an.
    »Du weinst ja«, sagte er.
    * * *
    Dengler stand an der Fischerau, jenem Teil der Stadt, der ihm immer schon am südlichsten erschien. Die kleinen einstöckigen
     Häuser waren blau, weiß oder rosa gestrichen, wirkten aufwendig renoviert und ließen teuere Mieten vermuten. Der Gerberbach
     rauschte vorbei, als flösse er in Pisa oder in einer anderen italienischen Stadt.
    Hier irgendwo musste die kleine Wohnung zu finden sein, in der Romy ihn zum Mann gemacht hatte. Entweder ließ ihn jedoch sein
     Gedächtnis im Stich, oder die Fassaden waren nicht nur neu gestrichen, sondern auch umgebaut, er fand die schwarze Holztür
     nicht mehr, durch die er damals so oft und immer mit zitterndem Herzen eingetreten war.
    Romys Wohnung bestand aus einem Zimmer, in dem das große Bett, bezogen mit braunem Cord, den meisten Platz einnahm. Am Fenster,
     mit Blick auf den Bach, stand ein kleiner, wackeliger Schreibtisch mit der Olympia-Reiseschreibmaschine, die ihr ganzer Stolz
     gewesen war und auf der sie mit »zehn Fingern blind« schreiben konnte, wie sie ihm im Verschwörerton ins Ohr flüsterte. Direkt
     neben der Tür befanden sich eine kleine Kochnische und ein Waschbecken, in dem sich immer ungespülte Teller und Tassen stapelten.
     Gegenüber ihrem Bett hatte Romy einen mannshohen Spiegel angebracht, der zugleich als Ablage und Halterung für ihren Schmuck
     diente und der mit Halsketten und Tüchern behangen war, in Farben und Formen, die Georg noch nie gesehen

Weitere Kostenlose Bücher