Die blaue Liste
Anzügen begegnet, die jedoch des Deutschen nicht mächtig
genug waren, um sich in der komplizierten Verschlagwortung zurechtzufinden. Er half den beiden fast einen halben Tag lang,
und aus diesem Kontakt ergaben sich hin und wieder lukrative Nachforschungsaufträge eines mormonischen Instituts aus Salt
Lake City.
Mit ihnen verdiente er genügend Geld, um nicht nur die Raufasertapete des verlassenen Zimmers seiner Frau neu zu weißen, sondern
es reichte auch für ein Metallschild mittlerer Größe, das er an der Hauswand, direkt neben der Eingangstür, anbringen ließ.
Ein Stempelfabrikant hatte es angefertigt und darin eingraviert:
Walter Steinberg, Ahnenforschung, 3. Stock.
Vielleicht verdankte er diesem Schild den Besuch der beiden Männer, die ein stark amerikanisch geprägtes Englisch sprachen
und ihm ein Angebot machten, das alle finanziellen Sorgen vertrieb. Steinberg ahnte, dass es keine legalen Geschäfte waren,
stellte aber keine Fragen.Die beiden Amerikaner sah er nie wieder. Er erhielt seine Instruktionen per Telefon, wie an jenem warmen Junitag im Jahre
1991. Der Anrufer drückte sich knapp aus, wie immer, teilte ihm nur Alter und Geschlecht mit: fünfundfünfzig Jahre, männlich;
aber das genügte ihm, mehr brauchte er nicht zu erfahren. Steinberg wusste, wonach er suchen musste.
Drei Tage verbrachte er abwechselnd im Archiv der Berliner Zeitung und in dem der Berliner Landesbibliothek. Sorgfältig studierte er die Todesanzeigen in den Zeitungen vor fünfundfünfzig Jahren.
Schließlich fand er, was er suchte.
† Volker Below
geb. 2. März 1936 – gest. 1. April 1936
Unser kleiner Engel ist gegangen.
Nur wenige Wochen nach der Geburt
nahm der Herr unseren Sohn Volker wieder zu sich.
In tiefer Trauer:
Michael und Doris Below
Berlin-Pankow, 3. April 1936
Er kopierte diese Anzeige und fuhr gut gelaunt mit der U-Bahn zurück nach Kreuzberg. In seinem Büro entwarf er ein Briefpapier
auf den Namen Volker Below. Er dachte sich für ihn eine Adresse aus: Frankfurter Allee 101. Er kannte dieses Gebiet in Lichtenberg,
und für diesen Fall konnte er sich keine bessere Adresse ausdenken. Hier lebte – oder besser überlebte – ein buntes Völkchen
aus allen Ländern des Ostens: Deutsche auch, aber hauptsächlich Russen, Ukrainer, Polen und Vietnamesen, fast alle ohne Namensschild
an der Tür. Eine Gegend, um die selbst Gerichtsvollzieher einen großen Bogen machen.
Am Nachmittag fuhr er zum Bezirksbürgermeisteramt Lichtenberg und ließ sich vom Pförtner ein Anmeldeformular geben. Wieder
zurück nach Kreuzberg. In seinem Büro füllte er das Formular auf den Namen Volker Below aus. Er ließ ihnvon Frankfurt/Oder nach Berlin umziehen, das Geburtsdatum entnahm er der Todesanzeige. Das Formular steckte er in einen Umschlag,
vergaß nicht 20 Mark Bearbeitungsgebühr beizulegen und schickte es per Post an das Bezirksrathaus. Am nächsten Tag ging der
Antrag ein, wurde weitergeleitet. Zwei Tage später wurde Volker Below Berliner Bürger. Steinberg fuhr jedoch noch am selben
Tag nach Charlottenburg und beantragte in dem dortigen Postamt einen Nachsendeantrag. Alle Zustellungen für Volker Below,
Frankfurter Allee 101, gingen nun zum Bahnhof Zoo, postlagernd. Nun ließ er vier weitere Tage verstreichen. Dann schrieb Volker
Below aus Lichtenberg, Frankfurter Allee 101, einen Brief an das Rathaus Pankow und bat um eine beglaubigte Kopie der Geburtsurkunde,
einen frankierten Rückumschlag legte er ebenso bei wie 20 Mark Bearbeitungsgebühr. Die Behörde überprüfte routinemäßig den
Wohnsitz des Antragstellers. Es gab nichts zu beanstanden, da er ordnungsgemäß an der von ihm angegebenen Adresse gemeldet
war. Zwölf Tage benötigte das Amt, um den Antrag zu bearbeiten, und versendete eine beglaubigte Kopie aus dem Urkundsbuch
an den Bürger in der Frankfurter Allee. Die Post vergaß den Nachsendeauftrag nicht, und so holte Steinberg den Brief vierzehn
Tage später postlagernd beim Bahnhof Zoo ab. Einen Umschlag mit einer neuen, nur ihm bekannten Adresse hatte er vorbereitet,
sodass das Dokument noch in der gleichen Stunde eine weitere Reise antrat. Über mehrere Stationen hinweg landete es nur vier
Tage später in Bangkok.
* * *
Paul Stein wusste nicht mehr, ob er Betrügern aufgesessen war, die sich mit 500 Dollar zufrieden gaben und von denen er nie
wieder etwas hören würde. Sich am Morgen aus demBett zu erheben, kostete ihn viel
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