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Die blaue Liste

Die blaue Liste

Titel: Die blaue Liste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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sie, lies das Band zurücklaufen. Olga
     lachte und sang mit; ihr schien es zu gefallen.
    Dengler sah zu Olga in den Rückspiegel. Sie wirkte frei, gelöst; ja, diese Frau gefiel ihm. Doch sofort schoben sich ernste
     Überlegungen vor seinen beginnenden Tagtraum. Es gab zwei Spuren, die ihn zu Paul Stein führen konnten. Die Blumenspur, so
     nannte er den Weg zu dem unbekannten Spender der Ringelblumen. Die Musikspur nannte er die zweite, die er über das Freiburger
     Barockorchester verfolgte.
    Sie würden zunächst nach Cannes fahren, wo das Freiburger Barockorchester einen Auftritt im Festivalpalast hatte. Am nächsten
     Tag würden sie nach Siena weiterfahren. Dort war der Lieferant der Ringelblumen, und dort spielte das Orchester das letzte
     Konzert seiner Tournee.
    Wie hoch waren die Chancen, Stein zu finden? Selten konnte er den Erfolg einer Aktion so schlecht abschätzen wie bei der Suche
     nach Paul Stein. Stein war der Autor der Blauen Liste. Warum war dieses Papier aus der Tatortdokumentation seines Falles verschwunden
     – des Falles, an dem er gescheitert war?
    Als sie bei Schaffhausen die Schweizer Grenze überquerten, studierte Mario mit Olga bereits das dritte italienische Volkslied
     ein. Dengler sah im Rückspiegel, wie sie lachte, aber auch wie sie hin und wieder zu ihm sah.
    In Zürich hielt Dengler den Wagen in der Nähe des Bahnhofs an. Die beiden Männer nahmen Olga für die wenigen Schritte zu einem
     Café in die Mitte. Mario erzählte Geschichten aus ihrer Kindheit in Altglashütten. Gerade war er dabei, von dem Kuh-Bingo
     zu erzählen, mit dem Georg und er die betrunkenen Bergleute um ein paar Groschen erleichtert hatten.
    In Ligurien verließ Dengler die Autobahn an der Ausfahrt Imperia und fuhr hinunter zum Meer. Sie hielten vor einemkleinen Fischrestaurant am Hafen. Dengler schloss den Wagen ab, während Mario und Olga schon auf den Eingang zugingen. Dengler,
     der nun einige Schritte hinter ihnen ging, bemerkte, dass Mario seinen wiegenden Cowboygang eingeschaltet hatte, während er
     eng neben Olga einherschritt. Diese Art zu gehen – Dengler kannte das nur zu gut – signalisierte eindeutige Absichten. Dengler
     registrierte das erstaunt und eher belustigt, als dass es ihm etwas ausmachte.
    * * *
    Die Sonne schien noch, als sie Cannes erreichten: Hier regierte schon der Frühling. Die Sonne wärmte ihn. Die Vögel auf den
     Palmen und Zypressen übten nicht mehr; sie lärmten in einer unverständlichen Sprache, und die Geräusche der Menschen waren
     nicht laut genug, sie zu übertönen. Er wusste nicht warum, die Sonne minderte seine Einsamkeit, und ihm schien plötzlich,
     als fahre er durch den ersten guten Tag seit vielen Jahren.
    Hinter dem Carlton stellte er den Saab ab. Sie betraten das ehrwürdige Foyer des legendären Hotels, den Schauplatz vieler
     berühmter Filme. Reges Kommen und Gehen; livrierte Diener schleppten Koffer. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Cary Grant
     plötzlich an der Rezeption gestanden hätte, oder Rock Hudson. Oder Elizabeth Taylor. Er sog die Atmosphäre noch einen Augenblick
     in sich auf, und dann verließen sie das Hotel durch einen Seiteneingang. Es wurde Zeit, den Ort des möglichen Geschehens zu
     inspizieren.
    Sie benötigten vom Carlton zum Gebäude des Festivals nur wenige Minuten. Die Meerluft schmeckte nach Salz und Freiheit, und
     er wunderte sich immer noch, wie sorgenfrei er sich plötzlich fühlte.
    Die Aufgabe würde ihm heute nicht schwer fallen. Es gab nur einen Eingang für die Besucher. Sie mussten die steileTreppe hinauf, die Dengler aus dem Fernsehen kannte. Mit rotem Teppich ausgelegt, schritten die Stars und Sternchen während
     des Festivals den gleichen Weg.
    Die Wartezeit verbrachten sie im Astoux et Brun. In der Auslage präsentierte der Besitzer in zwei Holztrögen riesige Mengen von Austern. Ein kleiner Junge, kaum älter als
     dreizehn, schleppte in einem Eimer neue Muscheln heran und kippt sie in die Tröge. Zwei Algerier standen daneben und öffneten
     sie mit einem kurzen Messer. Sie trugen im Gegensatz zu Mario keinen Kettenschutz für die linke Hand, aber vielleicht brauchten
     sie ihn auch nicht. Sie stießen die Messer blitzschnell zwischen die Muschelschalen, es krachte, und schon griffen sie nach
     einer neuen Auster.
    Dengler trank einen doppelten Espresso mit ein wenig Milch und wartete. Kurz vor halb sieben verabschiedete er sich von Olga
     und Mario und schritt zügig hinüber zum Festivalpalast.

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