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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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vor keinem Schaufenster, vor keiner Litfaßsäule mehr auf, überquerten die Magdeburger Straße, ließen die beiden hohen, kastenförmigen Schlußhäuser des Brösener Weges, auf denen nachts die Warnlichter für startende und landende Flugzeuge glühten, hinter uns, tippelten zuerst am Rande des umzäunten Flugplatzes, wechselten schließlich doch auf die trocknere Asphaltstraße über und folgten den in Richtung Brösen fließenden Straßenbahnschienen der Linie Neun.
    Wir sprachen kein Wort, aber Leo hielt immer noch die Patronenhülse im Handschuh. Wenn ich zauderte, der Nässe und Kälte wegen umkehren wollte, öffnete er die Faust, ließ das Stückchen Metall auf dem Handteller hüpfen, lockte mich so hundert Schritt und noch einmal hundert Schrittchen weiter und gab sich sogar musikalisch, als ich kurz vor dem Stadtgut Saspe einen wirklichen Rückzug beschloß. Auf dem Absatz drehte er, hielt die Patronenhülse mit der offenen Seite nach oben, drückte das Loch wie das Mundstück einer Flöte gegen seine untere, reichlich ausladende Sabberlippe und mischte einen heiseren, bald schrillen, bald wie vom Nebel gedämpften Ton in den immer intensiver einsetzenden Regen. Oskar fror. Nicht nur die Musik auf der Patronenhülse machte ihn frieren, auch das, wie auf Bestellung, der Stimmung wegen hundsmiserable Wetter trug dazu bei, daß ich mir kaum Mühe gab, mein jämmerliches Frieren zu verbergen.
    Was lockte mich alles gen Brösen? Gut, jener Rattenfänger Leo, der auf einer Patronenhülse pfiff.
    Aber es pfiff mir noch mehr. Von der Reede und von Neufahrwasser her, das hinter novemberlichem Waschküchennebel lag, reichten die Sirenen der Dampfer und das hungrige Geheul eines ein-oder auslaufenden Torpedobootes über Schottland, Schellmühl und Reichskolonie zu uns herüber, so daß Leo leichtes Spiel hatte, einen frierenden Oskar mit Nebelhörnern, Sirenen und pfeifender Patronenhülse nach sich zu ziehen.
    Etwa auf der Höhe des gegen Pelonken einschwenkenden Drahtzaunes, der den Flugplatz vom Neuen Exerzierplatz und den Zingelgräben trennte, blieb Schugger Leo stehen, beobachtete eine Zeit lang mit schräg gehaltenem Kopf und über die Patronenhülse fließendem Seiber meinen bibbernd fliegenden Körper. Die Hülse saugte er an, hielt sie mit der Unterlippe, zog sich, einer Eingebung folgend, wild mit den Armen stoßend, den geschwänzten Bratenrock aus und warf mir den schweren, nach feuchter Erde riechenden Stoff über Kopf und Schultern.
    Wir machten uns wieder auf den Weg. Ich weiß nicht, ob Oskar weniger fror. Manchmal sprang Leo fünf Schritte voraus, blieb stehen, gab in seinem vielknitterigen, doch erschreckend weißen Hemd eine Figur ab, die auf abenteuerliche Weise mittelalterlichen Verliesen, etwa dem Stockturm entsprungen sein mochte, in grellem Hemd so dem Irrsinn die Mode vorschrieb. Sobald Leo den torkelnden Oskar im Bratenrock erblickte, brach er immer wieder in ein Gelächter aus, das er jedesmal flügelschlagend, einem krächzenden Raben gleich, beendete. Ich muß in der Tat einen komischen Vogel, wenn nicht einen Raben, dann eine Krähe abgegeben haben, zumal mir die Schöße des Rockes ein Stück Weg hinterherhingen, einer Schleppe gleich die Asphaltdecke der Straße aufwischten; ich hinterließ eine breit majestätische Spur, die Oskar schon nach dem zweiten Blick über die Schulter stolz machte und eine in ihm schlummernde, noch nicht ganz ausgetragene Tragik andeutete, wenn nicht versinnbildlichte.
    Schon auf dem Max-Halbe-Platz ahnte ich, daß Leo mich nicht nach Brösen oder Neufahrwasser zu führen gedachte. Als Ziel dieses Fußmarsches kamen von Anfang an nur der Friedhof Saspe und die Zingelgräben in Frage, in deren unmittelbarer Nähe sich ein moderner Schießstand der Schutzpolizei befand.
    Von Ende September bis Ende April fuhren die Straßenbahnen der Seebäderlinien nur alle fünfunddreißig Minuten. Als wir die letzten Häuser des Vorortes Langfuhr hinter uns ließen, kam uns eine Bahn ohne Anhänger entgegen. Gleich darauf überholte uns jener Straßenbahnwagen, der an der Weiche Magdeburger Straße auf die Gegenbahn hatte warten müssen. Kurz vor dem Friedhof Saspe, neben dem man eine zweite Weiche eingerichtet hatte, wurden wir erst klingelnd überholt, dann kam uns ein Wagen entgegen, den wir schon lange im Dunst hatten warten sehen, weil der, der schlechten Sicht wegen, ein feuchtgelbes Stirnlicht führte.
    Noch das flach mürrische Gesicht des Straßenbahnführers der

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