Die Blechtrommel
Mantel, Pullover und Leibchen. Zuerst hatte ich Pique Sieben zerreißen wollen, als ich mit der Straßenbahn, von einem Schaffner zur kostenlosen Heimfahrt aufgefordert, von Saspe zurück zum Max-Halbe-Platz fuhr.
Oskar zerriß die Karte nicht. Er gab sie seiner Großmutter. Sie wollte hinter ihrem Grünkohl erschrecken, als sie ihn sah. Vielleicht dachte sie, der Oskar bringt nichts Gutes. Dann jedoch winkte sieden Dreijährigen, der sich hinter Fischkörben halb versteckt hielt, zu sich heran. Oskar machte Umstände, besichtigte erst einen lebenden Pomuchel, der auf feuchtem Seetang lag und fast einen Meter maß, wollte Taschenkrebsen aus dem Ottominer See zusehen, die zu Dutzenden in einem Körbchen immer noch fleißig den Krebsgang übten; da übte Oskar selbst diese Fortbewegungsart, näherte sich mit der Rückseite seines Matrosenmantels dem Stand seiner Großmutter und zeigte ihr erst die goldenen Ankerknöpfe, als er gegen einen der hölzernen Böcke unter ihren Auslagen stieß und die Äpfel ins Rollen brachte.
Schwerdtfeger kam mit den heißen, in Zeitungspapier gewickelten Ziegeln, schob sie meiner Großmutter unter die Röcke, holte mit dem Schieber wie eh und je die kalten Ziegel hervor, machte einen Strich auf die ihm anhängende Schiefertafel, wechselte zum nächsten Stand, und meine Großmutter reichte mir einen blanken Apfel.
Was konnte Oskar ihr geben, wenn sie ihm einen Apfel gab? Er reichte ihr zuerst die Skatkarte und dann die Patronenhülse, die er gleichfalls auf Saspe nicht hatte liegen lassen wollen. Lange und verständnislos starrte Anna Koljaiczek die beiden so verschiedenen Gegenstände an. Da näherte sich Oskars Mund ihrem knorpeligen Altfrauenohr unter dem Kopftuch, und ich flüsterte, alle Vorsicht beiseite lassend, an Jans rosiges, kleines, aber fleischiges Ohr mit dem langen wohlausgebildeten Läppchen denkend: »Er liegt auf Saspe«, flüsterte Oskar und stürzte, eine Kiepe mit Grünkohl umreißend, davon.
MARIA
Während die Geschichte lauthals Sondermeldungen verkündend wie ein gutgeschmiertes Gefährt Europas Straßen, Wasserwege und Lüfte befuhr, durchschwamm und fliegend eroberte, liefen meine Geschäfte, die sich ja nur auf das bloße Zertrommeln gelackter Kinderbleche beschränkten, schlecht, zögernd, überhaupt nicht mehr. Während die anderen mit teurem Metall verschwenderisch um sich warfen, ging mir wieder einmal das Blech aus. Zwar war es Oskar gelungen, aus der Polnischen Post ein neues, kaum angekratztes Instrument zu retten und somit der Verteidigung der Post einen Sinn zu geben, aber was konnte mir, der ich in meinen besten Zeiten knappe acht Wochen gebraucht hatte, um Blech in Schrott zu verwandeln, was konnte Oskar also die Blechtrommel des Herrn Naczalnik Junior bedeuten!
Gleich nach der Entlassung aus den Städtischen Krankenanstalten begann ich, den Verlust meiner Krankenschwestern beklagend, heftig wirbelnd zu arbeiten und arbeitend zu wirbeln. Der verregnete Nachmittag auf dem Friedhof Saspe ließ mein Handwerk nicht etwa zur Ruhe kommen, im Gegenteil, Oskar verdoppelte seine Anstrengungen und setzte all seinen Fleiß in die Aufgabe, den letzten Zeugen seiner Schmach angesichts der Heimwehrleute, die Trommel zu vernichten.
Aber die hielt stand, gab mir Antwort, schlug, wenn ich draufschlug, anklagend zurück.
Merkwürdigerweise kam mir während solcher Schlägerei, die ja nur bezweckte, einen bestimmten, zeitlich begrenzten Teil meiner Vergangenheit auszuradieren, immer wieder der Geldbriefträger Viktor Weluhn in den Sinn, obgleich der als Kurzsichtiger kaum gegen mich zeugen konnte. Aber war ihm als Kurzsichtigem nicht die Flucht geglückt? Verhielt es sich etwa so, daß die Kurzsichtigen mehr sehen, daß Weluhn, den ich meistens den armen Viktor nenne, meine Gesten wie einen schwarzweißen Schattenriß abgelesen, meine Judastat erkannt hatte und Oskars Geheimnis und Schande nun auf der Flucht mit sich und in alle Welt trug?
Erst Mitte Dezember verloren die Beschuldigungen des mir anhängenden lackierten und rotgeflammten Gewissens an Überzeugungskraft: Der Lack zeigte Haarrisse, blätterte ab. Das Blech wurde mürbe, dünn und riß, ehe es durchsichtig wurde. Wie immer, wenn etwas leidet und sich dem Ende entgegenmüht, möchte der dem Leid beiwohnende Augenzeuge das Leid verkürzen, ein schnelleres Ende herbeiführen. Oskar beeilte sich während der letzten Adventwochen, arbeitete, daß die Nachbarn und Matzerath sich den Kopf hielten, wollte
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