Die Blechtrommel
Brausepulver mit Apfelsinengeschmack. Ferner gab es Brausepulver mit Himbeergeschmack, auch Brausepulver, das, wenn man es mit klarem Leitungswasser übergoß, zischte, sprudelte, aufgeregt tat, das, wenn man's trank, bevor es sich beruhigte, entfernt, von weit her nach Zitrone schmeckte, und auch die Farbe im Glas hatte, nur etwas eifriger noch: ein sich als Gift aufspielendes, künstliches Gelb.
Was stand außer der Geschmacksrichtung weiter auf den Tütchen? Es stand da: Naturprodukt — Gesetzlich geschützt — Vor Nässe zu bewahren — und unterhalb einer gepunkteten Linie stand: Hier reißen.
Wo konnte man das Brausepulver sonst noch kaufen? .Nicht nur im Laden meiner Mama, in jedem Kolonialwarengeschäft — nur nicht bei Kaisers-Kaffee und in den Konsumläden — konnte man das oben beschriebene Pülverchen kaufen. Dort und in allen Erfrischungsbuden kostete das Tütchen Brausepulver drei Guldenpfennige.
Maria und ich bekamen das Brausepulver gratis. Nur wenn wir nicht warten konnten, bis wir zu Hause waren, mußten wir in Kolonialwarenhandlungen oder vor Erfrischungsbuden drei Pfennige zahlen oder gar sechs, weil wir nicht genug bekommen konnten und zwei flache Tütchen verlangten.
Wer fing an mit dem Brausepulver? Die alte Streitfrage zwischen Liebenden. Ich sage, Maria fing an.
Maria hat nie behauptet, Oskar habe angefangen. Sie ließ diese Frage offen und hätte, peinlich befragt, allenfalls zur Antwort gegeben: »Das Brausepulver hat angefangen.«
Natürlich wird jedermann Maria recht geben. Nur Oskar konnte sich mit diesem Schuldspruch nicht bescheiden. Nie hätte ich mir eingestehen mögen: Ein Tütchen Brausepulver zu drei Pfennigen Ladenpreis vermochte Oskar zu verführen. Ich war damals sechzehn Jahre alt und legte Wert darauf, mich selbst, allenfalls Maria, aber niemals ein vor Nässe zu schützendes Brausepulver schuldig zu sprechen.
Es begann wenige Tage nach meinem Geburtstag. Die Badesaison ging dem Kalender nach zu Ende.
Das Wetter jedoch wollte noch nichts vom September wissen. Nach einem verregneten August zeigte der Sommer, was er konnte; es ließen sich seine nachträglichen Leistungen auf der Tafel neben dem Anschlag der Lebensrettungsgesellschaft, den man der Bademeisterkajüte angenagelt hatte, ablesen: Luft 29 — Wasser 20 — Wind Südost — vorwiegend heiter.
Während Fritz Truczinski als Luftwaffen-Obergefreiter Postkarten aus Paris, Kopenhagen, Oslo und Brüssel schrieb — der Kerl war immer auf Dienstreisen — kamen Maria und ich zu einiger Sonnenbräune. Im Juli hatten wir unser Stammplätzchen vor der Sonnenwand des Familienbades. Da Maria dort vor den ungeschickten Scherzen der rotbehosten Sekundaner des Conradinums und vor den langweilig umständlichen Liebeserklärungen eines Obersekundaners der Petri-Oberschule nicht sicher war, gaben wir Mitte August das Familienbad auf und fanden im Damenbad ein weit ruhigeres Plätzchen, nahe dem Wasser, wo sich dicke, gleich den kurzen Ostseewellen kurzatmig schnaufende Damen bis zu den Krampfadern der Kniekehlen in den Fluten ergingen, wo Kleinkinder nackt und unerzogen gegen das Schicksal ankämpften; das heißt, sie kleckerten Sandburgen, die immer wieder zusammenfielen.Das Damenbad: wenn Frauen unter sich sind, sich unbeobachtet glauben, sollte ein Jüngling, wie ihn Oskar damals in sich zu verbergen wußte, die Augen schließen und sich nicht zum unfreiwilligen Zeugen ungenierten Frauentums machen lassen.
Wir lagen im Sand. Maria im grünen, rotumbordeten Badeanzug, ich hatte mir meinen blauen angepaßt. Der Sand schlief, die See schlief, die Muscheln waren zertreten und hörten nicht zu.
Bernstein, der angeblich wachhält, gab es woanders, der Wind, der der Wettertafel nach aus Südost kam, schlief langsam ein, der ganze weite, sicher überanstrengte Himmel hörte nicht mehr auf mit dem Gähnen; auch Maria und ich waren etwas müde. Gebadet hatten wir schon, hatten nach dem Baden, nicht etwa vor dem Baden gegessen. Nun lagen die Kirschen als noch feuchte Kirschkerne neben schon weißtrockenen, leichten Kirschkernen vom Vorjahr im Seesand.
Oskar ließ beim Anblick von soviel Vergänglichkeit den Sand mit den einjährigen, tausendjährigen und noch blutjungen Kirschkernen auf seine Trommel rieseln, machte also die Sanduhr und versuchte, sich in die Rolle des Todes hineinzudenken, indem er mit Knochen spielte. Unter Marias warmem, verschlafenem Fleisch stellte ich mir Teile ihres sicher hellwachen Gerippes vor,
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