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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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fernen Ländern nur dann zu denken, wenn man als Uniformierter an den planmäßigen Rückzügen teilnahm, womöglich im mitgeführten Tagebüchlein notierte: »Heute Orvieto geräumt, phantastische Kirchenfassade, nach dem Krieg mit Monika hinreisen und genauer ansehen.«
    Es fiel mir leicht, zum Kirchgänger zu werden, da mich zu Hause nichts hielt. Da gab es Maria. Doch Maria hatte den Matzerath. Da gab es meinen Sohn Kurt. Doch der Bengel wurde immer unerträglicher, warf mir Sand in die Augen, kratzte mich, daß seine Fingernägel in meinem väterlichen Fleisch abbrachen. Auch zeigte mir mein Sohn ein Paar Fäuste, die so weiße Knöchel hatten, daß mir der bloße Anblick dieser schlagfertigen Zwillinge schon das Blut aus der Nase springen ließ.
    Merkwürdigerweise nahm sich Matzerath meiner wenn auch ungeschickt so doch herzlich an. Erstaunt ließ Oskar es sich gefallen, daß jener ihm bisher gleichgültige Mensch ihn auf den Schoß nahm, drückte, anguckte, ihn sogar einmal küßte, dabei zu Tränen kam und mehr zu sich als zu Maria sagte:
    »Das geht doch nich. Man kann doch den eigenen Sohn nich. Selbst wenn er zehnmal und alle Ärzte dasselbe sagen. Die schreiben das einfach so hin. Die haben wohl keine Kinder.«
    Maria, die am Tisch saß und wie jeden Abend Lebensmittelmarken auf Zeitungsbögen klebte, blickte auf: »Nu beruhje dir doch, Alfred. Du tust grad so, als würd mir das mischt ausmachen. Aber wenn se sagen, das macht man heut so, denn weiß ich nich, was nu richtig is.«
    Mit dem Zeigefinger wies Matzerath auf das Klavier, das seit dem Tod meiner armen Mama nicht mehr zu Musik kam: »Agnes hätte das nie gemacht oder erlaubt!«
    Maria warf dem Klavier einen Blick zu, hob die Schultern und ließ sie erst beim Sprechen wieder fallen: »Na is verständlich, weil se de Mutter war und immer jehofft hat, dasses besser mecht werden mit ihm. Aber siehst ja: is nich jeworden, wird überall nur rum-jestoßen und weiß nich zu leben und weiß nich zu sterben!«
    Holte sich Matzerath die Kraft von der Abbildung Beethovens, die immer noch über dem Klavier hing und finster den finsteren Hitler musterte? — »Nein!« schrie er. »Niemals!« und schlug mit der Faust auf den Tisch, auf feuchte, klebende Klebebögen, ließ sich von Maria den Brief der Anstaltsleitung reichen, las darin und las und las und las, zerriß dann den Brief und schleuderte die Fetzen zwischen die Brotmarken, Fettmarken, Nährmittelmarken, Reisemarken, Schwerarbeitermarken, Schwerstarbeitermarken und zwischen die Marken für werdende und stillende Mütter. Wenn Oskar auch, dank Matzerath, nicht in die Hände jener Ärzte geriet, sah er fortan und sieht sogar heute noch, sobald ihm Maria unter die Augen kommt, eine wunderschöne, in bester Gebirgsluft liegende Klinik, in dieser Klinik einen lichten, modern freundlichen Operationssaal, sieht, wie vor dessen gepolsterter Tür die schüchterne, doch vertrauensvoll lächelnde Maria mich erstklassigen Ärzten übergibt, die gleichfalls und Vertrauen erweckend lächeln, während sie hinter ihren weißen, keimfreien Schürzen erstklassige, Vertrauen erweckende, sofort wirkende Spritzen halten.
    Es hatte mich also alle Welt verlassen, und nur der Schatten meiner armen Mama, der dem Matzerath lähmend auf die Finger fiel, wenn er ein vom Reichsgesundheitsministerium verfaßtes Schreiben unterzeichnen wollte, verhinderte mehrmals, daß ich, der Verlassene, diese Welt verließ.
    Oskar möchte nicht undankbar sein. Meine Trommel blieb mir noch. Auch blieb mir meine Stimme, die Ihnen, die Sie alle meine Erfolge dem Glas gegenüber kennen, kaum etwas Neues bieten kann, die manchen unter Ihnen, der den Wechsel liebt, langweilen mag — mir jedoch war Oskars Stimme über der Trommel ein ewig frischer Beweis meiner Existenz; denn solange ich Glas zersang, existierte ich, solange mein gezielter Atem dem Glas den Atem nahm, war in mir noch Leben.
    Oskar sang damals viel. Verzweifelt viel sang er. Immer wenn ich zu später Stunde die Herz-Jesu-Kirche verließ, zersang ich etwas. Ich ging nach Hause, suchte nicht einmal besonders, nahm mir ein schlechtverdunkeltes Mansardenzimmer vor oder auch eine blaubepinselte, luftschutzgerecht glimmende Straßenlaterne. Jedesmal nach dem Kirchenbesuch wählte ich einen anderen Heimweg.
    Einmal kam Oskar durch den Anton-Möller-Weg auf die Marienstraße. Einmal stiefelte er den Uphagenweg hoch, ums Conradinum herum, ließ dort das verglaste Schulportal klirren und kam

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