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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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es ihn mitsamt dem Käfig in die Luft, und er lief, flog, tanzte, taumelte, stürzte, verflüchtigte sich mit dem kreischenden Vogel, selber ein Vogel, endlich flügge, flatterte querfeldein Richtung Rieselfelder. Und schreien hörte man ihn durch die Stimmen der beiden Maschinenpistolen hindurch:
    »Er wächst, er wächst!« und schrie immer noch, als die beiden Jungrussen nachladen mußten: »Er wächst!« Und selbst als abermals die Maschinenpistolen, als Oskar schon eine stufenlose Treppe hinunter in wachsende, alles aufnehmende Ohnmacht fiel, hörte ich noch den Vogel, die Stimme, den Raben — Leo verkündete: »Er wächst, er wächst, er wächst...«

DESINFEKTIONSMITTEL
    Hastige Träume besuchten mich in der letzten Nacht. Ähnlich wie an meinen Besuchstagen, wenn die Freunde kommen, trug es sich zu. Die Träume übergaben einander die Tür, gingen, nachdem sie mir erzählt hatten, was Träume erzählenswert finden: alberne Geschichten voller Wiederholungen, Monologe, die sich leider nicht überhören lassen, weil sie eindringlich genug mit den Gesten schlechter Schauspieler vorgetragen werden. Als ich versuchte, Bruno die Geschichten beim Frühstück zu erzählen, konnte ich sie nicht loswerden, da ich alles vergessen hatte; Oskar ist unbegabt fürs Träumen.
    Während Bruno das Frühstück abräumte, fragte ich so nebenbei: »Bester Bruno, wie groß bin ich eigentlich?«
    Bruno stellte das Tellerchen mit der Marmelade auf die Kaffeetasse und bekümmerte sich: »Aber Herr Matzerath, Sie haben schon wieder keine Marmelade gegessen.«
    Nun, diesen Vorwurf kenne ich. Immer nach dem Frühstück wird er laut. Bringt Bruno mir doch jeden Morgen diesen Klacks Erdbeermarmelade, damit ich ihn mit einem Papier, mit der Zeitung, die ich zu einem Dach knicke, sogleich verdecke. Weder kann ich Marmelade sehen noch essen, deshalb wies ich auch Brunos Vorwurf ruhig und bestimmt zurück: »Du weißt, Bruno, wie ich über Marmelade denke — sage mir lieber, wie groß ich bin.«
    Bruno hat die Augen eines ausgestorbenen Achtbeiners. Diesen prähistorischen Blick schickt er, sobald er sich besinnen muß, zur Zimmerdecke, spricht zumeist in diese Richtung, sagte also auch heute früh zur Zimmerdecke: »Aber es ist doch Erdbeermarmelade!« Erst als nach längerer Pause — denn durch mein Schweigen hielt ich meine Frage nach Oskars Körpergröße aufrecht — Brunos Blick von der Decke zurückfand und sich an die Gitterstäbe meines Bettes klammerte, bekam ich zu hören, daß ich einen Meter und einundzwanzig Zentimeter messe.
    »Willst du nicht, bester Bruno, der Ordnung halber, noch einmal nachmessen?«
    Ohne den Blick zu verrücken, zog Bruno einen Zollstock aus der Popotasche seiner Hose, warf mit beinahe brutaler Kraft meine Bettdecke zurück, zog mir das verrutschte Hemd über die Blöße, entfaltete das heftig gelbe, bei einsachtundsiebenzig abgebrochene Maß, hielt es mir an, verschob, kontrollierte, machte es mit den Händen gründlich, war aber mit dem Blick in Saurierzeiten und ließ endlich, so tuend, als lese er das Resultat ab, den Zollstock auf mir zur Ruhe kommen: »Immer noch ein Meter und einundzwanzig Zentimeter!«
    Warum mußte er beim Zusammenraffen des Zollstockes, beim Abservieren des Frühstücks solchen Lärm machen? Gefällt ihm mein Maß nicht?
    Als Bruno mit dem Frühstückstablett, mit dem dottergelben Zollstock neben empörend naturfarbener Erdbeermarmelade das Zimmer verließ, klebte er vom Korridor aus noch einmal sein Auge an das Guckloch der Tür — uralt ließ mich sein Blick werden, bevor er mich mit meinem Meter und den einundzwanzig Zentimetern endlich allein ließ.
    So groß ist Oskar also! Für einen Zwerg, Gnom, Liliputaner fast zu groß. Wie hoch trug meine Roswitha, die Raguna, den Scheitel? Welche Höhe wußte sich Meister Bebra, der vom Prinzen Eugen abstammte, zu bewahren? Selbst auf Kitty und Felix könnte ich heute hinabschauen. Während doch alle, die ich da aufzähle, einst auf Oskar, der bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr vierundneunzig Zentimeter maß, neidvoll freundlich herabschauten.
    Erst als mich der Stein bei Matzeraths Begräbnis auf dem Friedhof Saspe am Hinterkopf traf, begann ich zu wachsen.
    Oskar sagt Stein. Ich entschließe mich also, den Bericht über die Ereignisse auf dem Friedhof zu ergänzen.
    Nachdem ich ein Spielchen treibend herausgefunden hatte, daß es für mich kein »Soll ich oder soll ich nicht?« mehr gab, sondern nur noch ein »Ich soll,

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