Die Blechtrommel
ich muß, ich will!« — nahm ich mir die Trommel vom Leib, warf sie mit den Stöcken in Matzeraths Grab, entschloß mich zum Wachstum, litt auch sogleich unter zunehmendem Ohrensausen und wurde erst dann von einem etwa walnußgroßen Kieselstein am Hinterkopf getroffen, den mein Sohn Kurt mit viereinhalbjähriger Kraft geschleudert hatte. Wenn mich auch dieser Treffer nicht überraschte — ahnte ich doch, daß mein Sohn etwas mit mir vorhatte — stürzte ich gleichwohl zu meiner Trommel in Matzeraths Grube. Der alte Heilandt zog mich mit trockenem Altmännergriff aus dem Loch, ließ aber Trommel und Trommelstöcke unten, legte mich, da das Nasenbluten deutlich wurde, mit dem Nacken auf das Eisen der Spitzhacke. Das Nasenbluten ließ, wie wir wissen, rasch nach, das Wachstum jedoch machte Fortschritte, die allerdings so minimal waren, daß nur Schugger Leo sie bemerkte und laut schreiend, flatternd und vogelleicht verkündete.
Soweit diese Ergänzung, die im Grunde überflüssig ist; denn das Wachstum setzte schon vor dem Steinwurf und Sturz ins Matzerath-grab ein. Für Maria und den Herrn Fajngold gab es jedoch von Anfang an nur einen Grund für mein Wachstum, das sie Krankheit nannten: der Stein an den Hinterkopf, der Sturz in die Grube. Maria prügelte das Kurtchen noch auf dem Friedhof. Kurt tat mir leid, denn es mochte ja immerhin sein, daß er den Stein mir zugedacht hatte, um zu helfen, um mein Wachstum zu beschleunigen. Vielleicht wollte er endlich einen richtigen, einen erwachsenen Vater haben oder auch nur einen Ersatz für Matzerath; denn den Vater in mir hat er nie erkannt und gewürdigt.
Es gab während meines fast ein Jahr währenden Wachstums Ärzte und Ärztinnen genug, die dem geschleuderten Stein, dem unglücklichen Sturz die Schuld bestätigten, die also sagten und in meine Krankengeschichte schrieben: Oskar Matzerath ist ein verwachsener Oskar, weil ein Stein ihn am Hinterkopf traf — und so weiter und so weiter.
Hier sollte man sich meines dritten Geburtstages erinnern. Was wußten die Erwachsenen über den Anfang meiner eigentlichen Geschichte zu berichten: Im Alter von drei Jahren stürzte Oskar Matzerath von der Kellertreppe auf den Betonfußboden. Durch diesen Sturz wurde sein Wachstum unterbrochen, und so weiter und so weiter ...
Man mag in diesen Erklärungen die verständliche Sucht des Menschen erkennen, die da jedem Wunder den Beweis liefern möchte. Oskar muß gestehen, daß auch er jedes Mirakel genauestens untersucht, bevor er es als unglaubwürdige Phantasterei zur Seite schiebt.
Vom Friedhof Saspe zurückkommend, fanden wir neue Mieter in Mutter Truczinskis Wohnung vor.
Eine polnische achtköpfige Familie bevölkerte die Küche und beide Zimmer. Die Leute waren nett, wollten uns, bis wir etwas anderes gefunden hatten, aufnehmen, doch der Herr Fajngold war gegen dieses Massenquartier, wollte uns wieder das Schlafzimmer überlassen und sich vorläufig mit dem Wohnzimmer behelfen. Das jedoch wollte hinwiederum Maria nicht. Sie fand, ihrer frischen Witwenschaft komme es nicht zu, mit einem alleinstehenden Herrn so vertraulich beisammen zu wohnen. Fajngold, dem es zeitweilig nicht bewußt war, daß es keine Frau Luba und keine Familie um ihn herum gab, der oft genug die energische Gattin im Rücken spürte, hatte Gelegenheit, Marias Gründe einzusehen. Der Schicklichkeit und der Frau Luba wegen ging es nicht, aber den Keller wollte er uns einräumen. Er half sogar bei der Einrichtung des Lagerraumes mit, duldete jedoch nicht, daß auch ich in den Keller zog. Weil ich krank war, erbärmlich krank war, wurde mir ein Notlager im Wohnzimmer neben dem Klavier meiner armen Mama errichtet.
Es war schwer, einen Arzt zu finden. Die meisten Ärzte hatten die Stadt rechtzeitig mit Truppentransporten verlassen, weil man die Westpreußische Krankenkasse schon im Januar nach dem Westen verlegt hatte und somit der Begriff Patient für viele Ärzte irreal geworden war. Nach langem Suchen trieb der Herr Fajngold in der Helene-Lange-Schule, in der Verwundete der Wehrmacht und der Roten Armee nebeneinander lagen, eine Ärztin aus Elbing auf, die dort amputierte. Sie versprach vorbeizukommen und kam auch nach vier Tagen, setzte sich an mein Krankenlager, rauchte, während sie mich untersuchte, drei oder vier Zigaretten nacheinander und schlief über der vierten Zigarette ein.
Herr Fajngold wagte es nicht, sie zu wecken. Maria stieß sie zaghaft an. Aber die Ärztin kam erst wieder zu sich, als
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