Die Blechtrommel
spielte lächelnd und immer noch mit dem Schwesternhäubchen ernste Musik, geriet dann in Verzweiflung, zerriß sich beinahe ihr Nachthemd, opferte nach einem Selbstmordversuch ihre Liebe — Borsche als Arzt — blieb dem Beruf treu, behielt also Häubchen und Rotkreuzbrosche. Während Oskars Kleinhirn und Großhirn lachten und Unanständigkeiten am laufenden Band dem Filmstreifen einflochten, weinten Oskars Augen Tränen, ich irrte halbblind in einer Wüste, die aus weißgekleideten anonymen Samariterinnen bestand, suchte Schwester Dorothea, von der ich nur wußte, daß sie beim Zeidler die Kammer hinter der Milchglastür gemietet hatte.
Manchmal hörte ich ihren Schritt, wenn sie vom Nachtdienst zurückkam. Hörte sie auch gegen neun Uhr abends, wenn ihr Tagesdienst beendet war und sie ihre Kammer aufsuchte. Nicht immer blieb Oskar auf seinem Stuhl sitzen, wenn er die Schwester auf dem Korridor hörte. Oft genug spielte er mit dem Türdrücker. Denn wer hält das aus? Wer guckt nicht auf, wenn etwas vorbeigeht, das womöglichfür ihn vorbeigeht? Wer bleibt auf dem Stuhl sitzen, wenn jedes nachbarliche Geräusch nur den einen Zweck zu haben scheint, ruhig Sitzende zu Aufspringenden zu machen?
Und noch schlimmer verhält es sich mit der Stille. Wir erlebten es mit jener Galionsfigur, die doch hölzern, still und passiv war. Da lag der erste Museumsdiener in seinem Blut. Es hieß: Niobe hat ihn getötet. Da suchte der Direktor einen neuen Wärter, denn das Museum durfte nicht geschlossen werden. Als der zweite Wärter tot war, schrie man: Niobe tötete ihn. Da hatte der Museumsdirektor Mühe, einen dritten Wärter zu finden — oder war es schon der elfte, den er suchte? — Gleichviel, welcher er war! Eines Tages war auch der mühsam gefundene Wärter tot. Man schrie: Niobe, Niobe grün bemalt, Niobe blickend aus Bernsteinaugen, Niobe hölzern, nackt, zuckt nicht, friert, schwitzt, atmet nicht, hatte nicht einmal Holzwürmer, weil sie gegen Holzwürmer gespritzt, weil sie wertvoll und historisch war. Eine Hexe mußte ihretwegen brennen, dem Schnitzer der Figur schlug man die begabte Hand ab, Schiffe sanken, sie entkam schwimmend. Niobe war hölzern und feuerfest, tötete und blieb wertvoll. Primaner, Studenten, einen alten Priester und einen Chor Museumswärter machte sie still mit ihrer Stille. Mein Freund Herbert Truczinski besprang sie, lief dabei aus; doch Niobe blieb trocken und nahm an Stille zu.
Wenn die Krankenschwester sehr früh am Morgen, etwa gegen sechs Uhr, ihre Kammer, den Korridor und die Wohnung des Igels verließ, wurde es sehr still, obgleich sie während ihrer Anwesenheit keinen Lärm gemacht hatte. Oskar mußte, um das aushalten zu können, ab und zu mit seinem Bett knarren, einen Stuhl rücken oder einen Apfel gegen die Badewanne rollen lassen.
Etwa um acht Uhr raschelte es. Das war der Briefträger, der die Briefe und Postkarten durch den Briefschlitz auf den Fußboden des Korridors fallen ließ. Außer Oskar wartete Frau Zeidler noch auf dieses Rascheln. Sie begann erst um neun mit ihrer Arbeit als Sekretärin bei Mannesmann, ließ mir den Vortritt, und so war Oskar es, der als erster dem Rascheln nachging. Ich tat leise, obgleich ich wußte, daß sie mich hörte, ließ meine Zimmertür offen, damit ich nicht Licht anknipsen mußte, griff alle Post auf einmal, steckte gegebenenfalls jenen Brief, den mir Maria, von sich, dem Kind und ihrer Schwester Guste säuberlich berichtend, einmal in der Woche schickte, in meine Schlafanzugtasche und durchsuchte dann rasch die restlichen Sendungen. Alles, was für die Zeidlers oder für einen gewissen Herrn Münzer kam, der am anderen Ende des Korridors wohnte, ließ ich, der ich nicht aufrecht stand, sondern kauerte, wieder auf die Dielen gleiten; die Post der Krankenschwester drehte, beroch, befühlte Oskar, befragte sie nicht zuletzt nach dem Absender.
Schwester Dorothea erhielt selten, aber immerhin mehr Post als ich. Ihr voller Name lautete Dorothea Köngetter; doch nannte ich sie nur Schwester Dorothea, vergaß von Zeit zu Zeit ihren Familiennamen, der sich ja auch hei einer Krankenschwester vollkommen erübrigt. Von ihrer Mutter aus Hildesheim bekam sie Post. Briefe und Postkarten kamen aus den verschiedensten Krankenhäusern Westdeutschlands. Es schrieben ihr Pflegerinnen, mit denen sie gemeinsam den Schwesternlehrgang absolviert hatte. Nun hielt sie schleppend und mühsam die Verbindung zu ihren Kolleginnen durch Postkartenschreiben
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