Die Bleiche Hand Des Schicksals
eine Lektion, die ich lernen musste.« Der Mann im schicken Anzug steckte seine Waffe zurück ins Halfter. »Sie sind in den vergangenen Monaten gute Gastgeber gewesen, und das hier ist ein wirklich gutes Versteck. Ich würde nur ungern einen von Ihnen töten.« Er sah Jane an. Lächelte ein Chorknabenlächeln unter toten Augen. »Deshalb vertraue ich darauf, dass wir dieses Gespräch nicht wiederholen müssen.«
Jane nickte.
»Gut. Los, Jungs, gehen wir. Ted hat die nächste Wache, da können wir noch ein Auge zutun.« Er lächelte Jane an. »Ich empfehle Ihnen dasselbe, Missus.«
Jack starb um zehn Uhr morgens.
Danach hörte sie auf zu denken, zu fühlen. Sie schleppte sich vorwärts, eine mechanische Mutter auf Schienen; Lucy die Nase putzen, Peter drängen, etwas zu essen, Mary über den dampfenden Topf halten, Lucys erbrochenes Mittagessen vom Boden putzen, das Baby baden, um das Fieber zu senken, Peter Stifte und Papier bringen.
Sie sagte den Kindern nichts von ihrem Bruder. Jon nahm sie nicht mehr wahr. Er war irgendwie substanzlos, ein Geist, der durch die Zimmer schwebte. Sie alle waren Geister, die auf die Dunkelheit warteten, die sie befreien würde.
Die Männer brachen eine halbe Stunde vor Mitternacht auf. Drei Laster rumpelten mit ausgeschalteten Scheinwerfern über die Zufahrt und die Straße hinunter. Sobald sie fort waren, liefen sie und Jon zum Stall und spannten die Pferde an. Sie arbeiteten rasch, schweigend. Sie wollte nicht mit ihm sprechen, und sie wollte nicht über den Grund nachdenken. Es war wichtig, das einzig Wichtige auf der Welt, dass er ging, den Arzt holte, und wenn das geschehen war, würde alles wieder gut. Alles würde sich richten.
»Janie«, sagte er, als er auf dem Kutschbock kauerte. In seiner Stimme lag etwas, das sie zerschmettern würde wie die Knochen in seinen Fingern. Wenn sie es zuließe.
»Beeil dich«, sagte sie und wandte sich zum Haus. Drinnen schürte sie den Herd, setzte den Kessel auf, öffnete noch eine Büchse Liniment, um Marys Brust einzureiben. Sie war oben im Kinderzimmer, und noch in der Küche konnte Jane das Rasseln und Keuchen hören, mit dem sie um jeden Atemzug rang.
Ehe sie nach oben ging, sah sie nach den Älteren. Peter schlief. Sein Atem ging leicht, und abgesehen von seiner Blässe und seiner Teilnahmslosigkeit glaubte sie ihn auf dem Weg der Besserung. Aus Lucys Nase und Mund war noch mehr Schleim auf das Kissen geronnen. Jane wischte ihn ab – sie hatte den Kissenbezug an diesem Tag schon dreimal gewechselt – und legte Lucy die Hand auf die Stirn.
Sie war kühl. Jane kauerte sich neben das Bett ihrer Tochter. Sie legte die Hand auf Lucys Brust. Was albern war. Kühle Haut war ein gutes Zeichen. Kein Fieber. Sie wartete. Sie wartete darauf, dass Lucys Brustkorb sich hob und senkte. Nichts geschah.
»Lucy!« Sie schüttelte das Mädchen. »Lucy, wach auf.« Sie schüttelte heftiger. »Lucy.« Sie saß auf dem Bett, zerrte ihre Tochter in eine aufrechte Haltung. Lucys Arme und Kopf baumelten herab. »Lucy.« Sie schüttelte sie heftig und presste das Ohr an ihren Mund. Nichts. Sie strich Lucy das schleimverklebte und vom tagelangen Liegen fettige Haar aus dem Gesicht. Ihrem süßen Gesicht. Das Mädchen war so stolz auf seine vollen braunen Haare. Sie würde sie waschen müssen, Lucy würde es verabscheuen … aber sie konnte nichts mehr sehen, nicht das schmutzige Haar, nicht das stille Gesicht, als die Tränen ihr die Sicht nahmen und sie sich an ihr kleines Mädchen schmiegte und schluchzte.
Einige Zeit später kam sie wieder zu sich. Der Kessel auf dem Herd pfiff. Sie legte Lucy ins Bett, drehte das Kissen um, damit ihr Kopf auf der sauberen Seite ruhte. Sie nahm das Liniment vom Küchentisch und ging nach oben. Mary lag in ihrem Gitterbett, die Augen weit geöffnet aber blicklos, so wie manchmal morgens direkt nach dem Aufwachen. Unter ihrem Hemdchen arbeiteten Brust und Bauch. Sogen mühsam Luft herein. Zwangen Luft heraus. Jane öffnete das Hemd, rieb sie mit festen Bewegungen mit dem Liniment ein und nahm sie aus dem Kinderbett. Sie wickelte sie in eine leichte Steppdecke, setzte sich in den Schaukelstuhl und wiegte ihr kleines Mädchen. In diesem Stuhl hatte sie sie gestillt. Vor gar nicht so vielen Monaten. Sie sah hinunter. Im matten Licht begegnete ihr Marys Blick. Ihr kleiner Körper gab nach, als sie sich in den Armen ihrer Mutter entspannte. Bald würde der Arzt hier sein. Bald würde alles gut. Jane schmiegte ihre
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