Die Bleiche Hand Des Schicksals
Wochen war er mittwochs ins Kreemy Kakes gegangen und hatte allein dort gesessen, ungeduldig und stinkwütend, und hatte sich gefragt, wann sie wieder zu sich kommen und ihn anrufen würde.
An irgendeinem Punkt zwischen dem letzten Mittwoch und dem heutigen Samstagabend hatte er begriffen, dass sie es nicht tun würde. Was ihm gleichgültig hätte sein sollen, aber er hatte in einer Ecke seines Büros gekauert, die Hand vor dem Mund, damit Harlene ihn nicht hörte. Und er hatte geweint, um Himmels willen, geweint wie ein Baby.
Er wollte nur mit ihr sprechen. Wenn sie mit ihm Schluss machte, wollte er es von ihr persönlich erfahren, nicht aus einem Brief. Sie hatte ihn gebeten, keinen Kontakt zu ihr aufzunehmen. Prima. Sie hatte nichts davon geschrieben, nicht in der Kirche aufzutauchen. Er hatte die Ankündigung des Gottesdienstes in der Zeitung gesehen. Woher hätte er wissen sollen, dass die Kirche an einem Samstagabend um zweiundzwanzig Uhr voll sein würde?
Etwas raschelte, und alles wurde still, und dann stand Clare an der Tür, umgeben von einer Gruppe Menschen, alle in weißen Gewändern. Ein dünner Mann mit schütterem Haar trug eine Kerze, die fast ebenso groß war wie er. Clare hielt eine Art Schüssel, und er erschrak, als etwas darin aufloderte. Es war das einzige Licht in der Kirche, und in seinem Schein wirkte sie wie eine Priesterin aus vergangener Zeit, lange bevor jemand auch nur vom Christentum geträumt hatte.
»Liebe Freunde in Christus«, sagte Clare mit einer Stimme, die an den Steinmauern widerhallte und in jede Ecke drang. »In dieser heiligen Nacht, in der unser Herr Jesus vom Tod zum Leben auferstand …« Sie fuhr mit ihrer Anrufung fort und rief dann alle zum Beten auf. Er senkte den Kopf. Alle anderen schienen die Worte zu kennen. Dann trat der dünne Kerl einen Schritt zurück und senkte den Docht der Kerze in die Schüssel, entzündete sie. Die Leute in den weißen Gewändern, die so wie er auf Kartonscheiben befestigte einfache weiße Kerzen trugen, entzündeten diese an der großen. Dann gaben sie das Licht an die in der Nähe sitzenden Gläubigen weiter. Und ehe er wusste, wie ihm geschah, entzündete der Mann neben Russ seine Kerze und bedeutete ihm, das Licht weiterzureichen. Die Flamme wanderte nach vorn, eine Welle winziger Lichter wogte zur Stirnwand der Kirche, bis der ganze Raum hell erleuchtet war.
Ziemlich beeindruckend. Er drehte sich zu dem Feuer um, mit dem alles begonnen hatte, und erwischte Clare, gerade als sie zu seiner Bank spähte. Ihre Augen wurden groß, aber dann marschierten sie und die Übrigen durch das Kirchenschiff, und es gab einige Fummelei mit der großen Kerze, und der dünne Mann leierte etwas über Freude. Er leierte weiter und weiter über die Kerze und das Licht und die Nacht des Übergangs vom Tod ins Leben.
Dann sagte Clare: »Lasset uns die Berichte von Gottes rettenden Taten in der Geschichte hören«, und die Gemeinde setzte sich. Danach folgte eine endlose Reihe von Bibellesungen, der Chor sang einen Psalm, dann wieder ein Gebet. Russ fühlte sich wie damals als Kind, eingesperrt in der methodistischen Kirche, wo seine Mutter ihn kniff, wann immer er sich rührte. Er vergnügte sich damit, seine Kerze hin und her zu drehen und mit dem Wachs Muster zu gießen, bis Clare die Kanzel bestieg und zu predigen begann.
»Und so bricht der Tag heran«, sagte sie. »Man kann ihn nicht aufhalten, gleichgültig, wie sehr man am Gewöhnlichen, Weltlichen festhalten möchte. Der Tag bricht an, die Trauernden kommen, der Stein ist fortgerollt. ›Warum sucht ihr ihn hier, unter den Toten? Gehet hin, er lebt.‹ Und alles ist anders.«
Er wusste, dass es Einbildung war, dass sie unmöglich durch die Dunkelheit und die Lichter bis zur letzten Reihe sehen konnte, aber er hatte das Gefühl, als spräche sie zu ihm. Nur zu ihm.
»Es ist furchteinflößend, das Leben zu begrüßen, wenn man mit kalter Reglosigkeit gerechnet hat. Unheimlich. Aber keiner von uns kann es aufhalten, und es ist falsch, es zu versuchen. Wir gewöhnen uns daran, unser Selbst und unsere Gefühle abzutöten, aber jetzt ist der Stein fortgerollt. Wir können uns nicht wieder in die Leichentücher hüllen. Niemand hat je versprochen, dass diese Wandlung einfach ist, aber wir sind aufgerufen, Mut zu haben. Und Glauben.« Sie lächelte, verströmte Licht, und er spürte, wie sein Herz barst. »Ich will diesen Weg mit euch gehen, mit dem gleichen Staunen, und herausfinden, was wir aus
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