Die Bleiche Hand Des Schicksals
Schaufenster des Geschenkladens vorbeiging, erkannte sie den Grund. Zusätzlich zum Gestank und den feuchten Knitterfalten waren ihr schwarzes Hemd und ihre Hose voller Schlammspuren, und ihre Haare … nun, lieber nicht darüber nachdenken. Russ wäre es egal.
Sie nahm den Fahrstuhl in den dritten Stock. »Ich möchte zu Russ Van Alstyne«, sagte sie zu dem diensthabenden Pfleger. »Unten sagte man mir, er wäre hier?«
»Richtig.« Der Pfleger, ein Mann um die zwanzig mit lockigen Haaren, schlug eine Patientenakte auf. »Sein Bein musste neu gegipst werden. Und in seinen Lungen gab es Spuren von Flüssigkeit, deshalb bleibt er über Nacht zur Beobachtung hier. Aber ich fürchte, er schläft schon.« Er warf einen Blick auf ihren Priesterkragen. »Sind Sie seine …«
Sie lächelte über ihre Enttäuschung hinweg. »Sagen Sie ihm einfach, dass Clare Fergusson vorbeigekommen ist. Danke.« Sie stieß sich vom Empfangstresen ab.
»Verzeihung?« Eine Stimme hallte durch den Flur. »Sind Sie Clare Fergusson?« Clare drehte sich um. Eine kleine Göttin – es gab keine andere Bezeichnung dafür – schwebte auf sie zu. Sie lächelte und winkte. »Ich bin nur kurz raus, um mir eine Tasse Tee zu holen, und habe Ihren Namen gehört.« Sie war winzig, kurvenreich, mit Marilyn-Monroe-Frisur und makellosem Teint. Sie streckte Clare die Hand entgegen. »Ich muss mich einfach bei Ihnen bedanken.« Aus der Nähe sah man kleine Fältchen um ihre Augen und etwas schiefe Schneidezähne, die ihr Lächeln charmant statt perfekt machten. »Ich bin Linda Van Alstyne.«
Clare bewegte die Hand auf und ab, setzte ein Lächeln auf, sagte irgendetwas.
»Mutter Van Alstyne sagte mir, Sie wären diejenige gewesen, die Russ aus dem Wald geholt und ins Krankenhaus gebracht hat, als er sich das Bein brach. Ich bin so dankbar. Immer geht er los und macht so verrückte Dinge, wissen Sie.« Sie lachte. Selbstverständlich melodisch. »Deshalb bin ich froh, dass er Freunde hat, die sich um ihn kümmern.«
Clare sagte irgendetwas. Sie meinte, gleich auf dem Boden zu zerschmelzen, wie die böse Hexe des Westens. Sie war die böse Hexe. Sie verdiente es, zu zerschmelzen.
»Haben Sie jemanden aus Ihrer Gemeinde besucht?«
Clares Mund klappte auf und zu.
»Nun, es ist wunderbar, Sie endlich kennenzulernen. Ich werde Russ sagen, dass Sie hier waren, okay?« Sie drückte ein letztes Mal Clares Hand und schwebte den Flur zurück zur Teeküche, wie die Frau aus dem Gedicht von Roethke. Ihre Bewegung war Musik.
Clare tastete sich zum Fahrstuhl. Einige Zeit später fand sie sich in der Kapelle wieder. Sie saß lange Zeit im Dämmerlicht, starrte auf die nicht konfessionsgebundene Altarwand. Saß einfach nur da. Dann dachte sie nach. Dann betete sie. Nach einer Weile erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging in das Familienzimmer nebenan, wo es Spielautomaten gab, eine Kaffeemaschine, lange Sofas – und einen Schreibtisch, auf dem krankenhauseigenes Briefpapier lag.
Ein älteres Paar schlief auf einem der Sofas, sie schnarchte im Sitzen mit angelehntem Kopf, er lag ausgestreckt mit dem Kopf in ihrem Schoß. Clare zog den Schreibtischstuhl so leise wie möglich heraus. Sie setzte sich, den Kopf über die Schreibunterlage gebeugt. Dann schrieb sie. Es war kein langer Brief. Er passte auf eine Seite. Als sie fertig war, steckte sie das Blatt in einen Umschlag und schrieb Russ’ Namen darauf.
Sie nahm wieder den Fahrstuhl in den dritten Stock. Der diensthabende Pfleger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich durch die Haare, als er sie sah. »Mit Ihnen habe ich nicht noch mal gerechnet.«
Sie schob den Brief über den Tresen. »Könnten Sie dafür sorgen, dass Mr. Van Alstyne ihn erhält? Wenn er aufwacht?«
»Okay.«
Sie zögerte. »Er ist für ihn persönlich. Niemanden sonst.«
Er forschte in ihrem Gesicht. »Ich verstehe.«
Sie kehrte der Station und ihren Bewohnern den Rücken, nahm den Fahrstuhl nach unten und verließ das Krankenhaus, ohne zurückzuschauen. Aber in ihrem Auto dachte sie daran. An den dunklen Raum und das steigende Wasser und seine Hände in ihren Haaren. Dann legte sie den Gang ein und fuhr nach Hause.
42 22. April, Ostervigil
E r saß im Dunkeln in der letzten Kirchenbank von St. Alban’s, eine Kerze in der Hand, und wusste nicht warum.
Nein, das war gelogen. Er hatte getan, worum sie ihn in dem verdammten Brief gebeten hatte. Er war ihr aus dem Weg gegangen und hatte nicht angerufen. In den letzten beiden
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