Die Blendende Klinge
bewältigen zu müssen.
Er schritt voraus, ohne auf sie zu warten.
»Sie fürchten sich zu sehr vor Euch, Gavin.«
Fürchten sich zu sehr? Sie fürchten sich nicht genug.
Gavin trat in den Versammlungsraum und setzte sich auf die gegenüberliegende Seite. Der Tisch, um den herum sie sich versammelten, bildete einen Kreis, aber Gavin wollte sehen, wer durch die Tür kam. Ein paar der Farben hatten bereits Platz genommen. Sadah Ultraviolett, die Paria vertrat, saß neben Klytos Blau. Sadah stammte aus dem niederen Adel eines Clans, der in Paria nur wenig Einfluss hatte. Eine Parianerin aus den Bergen. Sie hatte durch kalte Intelligenz und verbissenen Ehrgeiz in ihrem Leben viel mehr erreicht, als irgendwer erwartet hätte. Unbestimmtes Alter, dürre Glieder, die Hände so knorrig wie die Äste einer Yuccapalme, ihre Haut so geschuppt wie der Stamm einer Yuccapalme. Sie hatte ihr krauses Haar in kleine Knoten zusammengebunden und trug eine eng anliegende Kappe aus gewebtem Gold, die sich fest an ihre Kopfhaut schmiegte, mit kleinen Öffnungen für jeden Haarknoten. Eine seltsame Aufmachung, die, soweit Gavin wusste, Sadahs eigene Erfindung war. Typisch für die Ultraviolette, die sie war, verlieh Sadah ihrem Abstimmungsverhalten stets eine objektiv-leidenschaftslose Note, und bei den Abstimmungen des Spektrums war sie oft der Wechselwähler, weil sie gegen jeden Druck außer dem der Logik immun war. Sie verachtete Lügen.
Klytos Blau war durch und durch ein Ruthgari, aber er vertrat Ilyta. Er war ein Feigling. Intelligent, doch ihm fehlte die Substanz, die Würde. Meist tat er einfach, was Andross ihm vorschrieb. Gavin setzte sich neben Klytos, grüßte ihn mit einem Nicken, als würde er ihn nicht verachten. Er saß gern neben ihm – nicht weil er seine Gesellschaft genoss, sondern weil es am schwierigsten ist, unauffällig den Gesichtsausdruck derer zu studieren, die neben einem sitzen. Klytos spielte keine Rolle; Gavin musste sein Gesicht nicht studieren.
Jia Tolver, die Gelbe, nickte Gavin zu und lächelte. Gelbe, im Zentrum des Farbenspektrums, konnten wirklich beeindruckende Leistungen vollbringen: große Seelen, die im Bereich ihrer Macht die Anforderungen von Gefühl und Verstand in ein ideales Gleichgewicht brachten. Jia war keine große Seele, auch wenn sie nur zu gern glaubte, eine zu sein. Tatsächlich war sie am Ende für die Anforderungen von Gefühl und Verstand einfach nur gleichermaßen empfänglich. Gavin konnte sie praktisch immer auf seine Seite ziehen. Sie war schon seit vielen Jahren in ihn vernarrt. Sein Lächeln reichte aus, um ihre Stimme zu bekommen, auch wenn es etwas Fingerspitzengefühls bedurft hatte, sie davon abzuhalten, auch in sein Bett kriechen zu wollen. Sie probierte es mit allen Schlichen, und er wich ihren Angeboten eher aus, als sie rundheraus abzulehnen. Ein eitles Geschöpf. Sah leidlich gut aus, aber zu viel Schminke. Immerhin benutzte sie nun weniger Parfüm, nachdem Andross, wann immer sie den Raum betrat, allerlei deutliche Anspielungen auf Räume gemacht hatte, die wie billige Hurenhäuser rochen. Sie war stolz auf ihre zusammengewachsenen Augenbrauen und passte auf, dass sie auch immer perfekt frisiert waren.
Als er sich setzte, lächelte Gavin die auf ihrer Stirn hockende haarige Raupe an. Jia strahlte.
Die anderen kamen plaudernd zusammen herein. Sie wirkten freundlich, aber angespannt. Delara Orange, die rot-orange Bichromatin, deren Busen so groß war, dass er eigentlich seine eigene Stimme verdient hätte, wirkte abgespannt und grimmig, und so alt war sie Gavin noch nie vorgekommen. Sie vertrat Atash: Ihr Land war vom Farbprinzen besetzt worden, und zweifellos würde sie den Krieg befürworten. Zweifellos hatte sie den Krieg von der Stunde an befürwortet, da sie von der Besetzung ihres Landes gehört hatte.
Die Infrarote war Arys von den Grünschleiern. Sie war vielleicht im achten Monat schwanger; eigentlich war sie ständig schwanger. In ihr vermählte sich die Leidenschaftlichkeit der Infraroten mit dem kulturellen Imperativ, dass Wandler Nachwuchs in die Welt zu setzen hatten, um die Toten in den einst endlos scheinenden Kriegen zwischen dem Blutwald und Ruthgar zu ersetzen. Sie war, schätzte Gavin, vielleicht fünfunddreißig und hatte zwölf Kinder. Wenn die Gerüchte stimmten, stammten keine zwei vom selben Vater. Ihr sommersprossiges Gesicht umhüllte ein Vorhang aus glattem rotem Haar, und in ihren Augen funkelten die kristallinen Ablagerungen,
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