Die Blendende Klinge
über das Kliff gewählt, sorgte plündernd für Nahrung und war stets bereit, jeden bewaffneten Widerstand niederzuschlagen.
Die Armee war inzwischen so groß, dass es immer wieder Scharmützel gab, von denen Liv erst nach Einbruch der Dunkelheit erfuhr. Die atashische Armee hatte die Blutröcke auf Schwächen getestet, aber angesichts der großen Zahl von Wandlern, über die der Prinz verfügte, hatte sie nicht viele finden können. Zymun hatte jedoch bereits gemutmaßt, dass sie schon bald herausfinden würden, wie viel Stahl die Atashi im Rückgrat hatten. Morgen würde die Armee die schmalste Stelle zwischen den steilen Kliffen und dem Meer erreichen.
»Werden sie versuchen, uns an den Sandpforten zu vernichten?«, fragte Liv.
»Nein«, erwiderte der Prinz.
»Wirklich nicht? Zymun hat gemeint, das sei für sie die beste Gelegenheit, uns aufzuhalten, bevor wir das Grasland um Ru erreichen.«
»Das stimmt. Aber man braucht Unterstützung von See, um die Pforten halten zu können, und unsere ilytanischen Verbündeten haben die atashische Flotte vor fünf Tagen vernichtend geschlagen.«
Liv hatte davon auch nicht das leiseste Gerücht gehört. »Ilytanische Verbündete? Aber die Ilytaner glauben an gar nichts.«
»Sie glauben an Gold.« Der Farbprinz grinste grimmig. Zusammen kletterten sie ein ins Meer hinausragendes, felsiges Kap empor. Die dort wachenden Soldaten salutierten. Als der Prinz den besten Aussichtspunkt erreicht hatte, machte er irgendetwas mit seinen Augen. Dann stieß er enttäuscht die Luft aus. »Noch nicht. Vielleicht morgen.«
»Hoher Herr?«
»Schließt Eure Augen, Liv. Könnt Ihr es fühlen?«
Sie schloss die Augen und versuchte, etwas wahrzunehmen. Sie fühlte die Morgenkühle, roch den Gestank der Latrinen, die Lagerfeuer, das bratende Fleisch, ihren eigenen Körper. Sie spürte das Fliegengewicht des Lichts auf ihrer Haut, wie ein Windhauch, der in sanften Wellen von der aufgehenden Sonne herüberwehte. Sie hörte Offiziere ihren exerzierenden Soldaten Befehle zubellen, das Hämmern von Stöcken auf Rüstungen, das Wiehern von Pferden, das Gelächter einer Frau, das Stampfen von Füßen. Sie hörte das leicht unnatürlich wirkende Pfeifen, wenn der Farbprinz atmete.
Sie öffnete die Augen wieder und sah den Mann an, der die Welt in ihren Grundfesten erschütterte. Schüttelte den Kopf, über sich selbst enttäuscht.
»Morgen. Morgen vielleicht werdet Ihr es wahrnehmen. Geht jetzt und schickt Dervani Malargos und Jerrosh Grün her.«
Die beiden waren die zwei besten Grünwandler in den Reihen der Blutröcke, die Ausbilder aller Grünen, deren Halo noch nicht gebrochen war. Liv ging hinunter ins Lager und rief nach ihnen. Sie schienen den Befehl bereits erwartet zu haben und machten sich sofort auf den Weg.
Liv beobachte sie, als der Prinz mit ihnen sprach, und fragte sich, ob denn sie sehen oder fühlen würden, was sie nicht wahrgenommen hatte. Und ob sie in irgendeiner Weise versagt hatte.
»Guten Morgen, meine Schöne. Immer dabei bei jeder Prüfung und Geheimniskrämerei, was?« Zymun trat auf sie zu und legte besitzergreifend den Arm um sie. Manchmal ärgerte sie das, aber sie hatte sich tags zuvor Sorgen gemacht, dass Zymun bereits begann, das Interesse an ihr zu verlieren, und so sagte sie nichts.
»Ich denke schon«, antwortete sie. »Aber nicht aus einer Laune heraus.«
»Glaubst du«, entgegnete Zymun. Er war der einzige Mensch, den Liv kannte, der es wagte, über irgendetwas zu spotten, was der Farbprinz tat. Zuerst hatte sie sich darüber gewundert, aber etwas Nachdenken mit der Hilfe von Gelb und Ultraviolett hatte ihr Klarheit verschafft: Zymun war neidisch. Er fühlte sich bedroht, war weniger Mann, wenn der mächtigste Mann der Welt in seiner Nähe war.
Das schien ihr das ganze Geheimnis zu sein.
»Und? Was war es heute?«, fragte Zymun.
»Er wollte wissen, ob ich etwas sehe oder spüre. Was nicht der Fall war.«
»Sieht ganz so aus, als würde es den beiden nicht besser gehen«, bemerkte Zymun und nickte in Richtung von Dervani und Jerrosh. »Sie hassen einander – beide wollen sie die Grünen anführen. Als könnten die Grünen überhaupt angeführt werden. Lauter Schwachköpfe und Idioten.«
Die Männer stritten sich, ihre Gesichter wurden rot, kochten vor Wut. Liv konnte von hier aus fast ihre Worte verstehen. Doch sie beobachtete lieber den Farbprinzen. Aus der Haltung seiner übergroßen Schultern konnte sie ablesen, dass er selbst zornig war,
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