Die Blendende Klinge
Ultraviolett ließ sie kurzzeitig vergessen, dass sie nackt war. Koios Weißeiche blickte sie unverwandt an, und sie saugte die Beachtung, die er ihr schenkte, ganz unverfroren auf, als sei sie reines Licht. Sie wartete etwas länger als einen Augenblick, bis sie sah, dass ihn ein Anflug des Bedauerns überkam, und dann hob sie rasch ihr Unterkleid auf und zog ihr Kleid über, so dass er vielleicht denken konnte, sie hätte ihre Nacktheit zunächst nicht bemerkt. Es gab noch andere Arten der Macht außer dem Schwert und der Magie. Und manche davon wirkten besser im Stillen.
Im Stillen zog sie ihr am besten geeignetes Kleid an, wobei sie darauf achtete, dass ihr langes dunkles Haar ihr nicht in die Quere kam. Der Farbprinz knöpfte ihren obersten Knopf zu, dann folgte sie ihm ins Feldlager hinaus.
Während die Blutröcke ihren Marsch fortgesetzt und eine Stadt nach der anderen überrollt hatten, waren sie immer zahlreicher geworden. Liv war sich nie sicher, wie viele von denen, die zu ihnen stießen, tatsächlich an ihre Sache glaubten oder ob alles, woran sie glaubten, nur Sieg und Plünderungen waren. Sie wollte alle verachten, die sich aus Bequemlichkeit zu ihnen gesellten, aber sie machte die meiste Zeit über zu starken Gebrauch von Ultraviolett, um sich darüber mehr als nur kühl zu amüsieren. Außerdem glauben Menschen an die Macht, und was ist Sieg anderes als eine Demonstration der Macht?
Ein Teil von ihr bedauerte es noch immer, aber wohin sie auch blickte, sah sie, dass der Farbprinz recht hatte: Macht. Am Ende aller menschlichen Interaktionen steht die Macht.
Der Farbprinz hielt jeden Tag seine Predigten, und er hatte jetzt Schüler, sowohl Wandler wie auch Stumpfe, die jedes seiner Worte niederschrieben und sich viel Mühe gaben, alles in ein stimmiges Konzept zu bringen. Er sprach darüber, dass Dazen zurückkehren und sich für ihre Sache stark machen würde. Er redete von Freiheit. Er sprach über die Abgaben, die sie alle an die Chromeria zahlten. Auch wenn seine Worte Politik, Religion, Geschichte und Wissenschaft miteinander vermischten, glaubte Liv unter seinen rhetorischen Kunstgriffen weniger ein raffiniert nuanciertes System zu erkennen als einen Glauben, der einfach bloß aus der Stärke des Vertrauens seiner Gläubigen in die Überzeugung entstand, dass dieser Glaube auf einer rationalen Grundlage basieren musste, da ihn ihr großer Führer sonst wohl nicht verkünden würde. Sie wusste nicht, wie viel davon der Omnichrom selbst glaubte, aber sie wusste, dass er zum Erreichen seiner großen Ziele treue Anhänger brauchte. Und diese Anhänger wiederum brauchten etwas, woran sie glauben konnten, etwas, das sie vereinte.
Er predigte der Menge nicht von Macht, genauso wie er ihr nicht erlaubte, ihn Koios zu nennen. Vertrautheit und Wissen waren allein den Privilegierten vorbehalten. Manchmal kam Liv der Gedanke, dass es dem Farbprinzen wohl völlig egal war, was all diese Leute glaubten; dass er die Ketzereien nur ausnutzte, da er es für sinnvoll hielt, aus jeglicher Form von Unmut gegenüber der Chromeria Kapital zu schlagen.
»Habt Ihr inzwischen herausgefunden, was Eure große Aufgabe ist, Aliviana?«, fragte der Prinz. Er nickte einer Gruppe von Grünwichten zu, die angesichts seiner Gegenwart wenig Anstalten machten, Haltung anzunehmen. Auch für die ehrfürchtige Verehrung taugten Grüne nicht sonderlich.
»Einmal abgesehen davon, ein Köder für meinen Vater zu sein?«
»Ich habe Euch von Anfang an gesagt, dass Ihr das seid, und, ja, ich habe noch nicht alle Hoffnung für Corvan aufgegeben. Aber einer Geisel müsste ich nicht all die Privilegien und Freiheiten einräumen, die Ihr genießt. Sicherlich seid Ihr über diese Vorstellung längst hinweg.«
»Ich bin die beste Ultraviolette, die Ihr habt. Es muss etwas damit zu tun haben«, antwortete Liv.
»Eine recht vage Vermutung«, meinte der Prinz. »Aber noch vor nicht allzu langer Zeit hättet Ihr gesagt: ›Eine der besten‹.« Er wirkte amüsiert.
»Ich habe mich verändert«, erwiderte sie. Sie war nun selbstbewusster, hatte viele der Fesseln der Chromeria abgelegt. »Und ich habe recht.«
»Hmm.«
Die Klippen des Roten Kliffs ragten über dem Feldlager auf. An vielen Stellen gab es kleine verzweigte Wege, die diese Klippen hinaufführten, aber der Prinz hatte sich dafür entschieden, nahezu seine gesamte Armee den Weg über die Küstenstraße nehmen zu lassen. Nur seine Kavallerie hatte die höher gelegene Straße
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