Die Blendende Klinge
es mir glaubst, aber vielleicht wirst du es eines Tages einmal tun. Ich verdanke dir mein Leben, Junge. Oh, nein, natürlich nicht in irgendeinem melodramatischen Sinn. Meine Frau – deine Großmutter – hat mich verlassen und Selbstmord begangen. Sei es auch der Selbstmord, den man Befreiung nennt. Ich habe sie geliebt. Ich habe für sie gelebt. Und sie hat mich verschmäht, ist lieber gestorben, als noch einen weiteren Tag in meiner Gesellschaft zu verbringen. Hast du jemals eine so abgrundtiefe Zurückweisung erlebt?«
Kip dachte an seine Mutter, die es vorgezogen hatte, sich ihr Gehirn mit Rattenkraut oder jedem anderen Rauschmittel, das sie in die Finger bekam, wegzublasen, bis sie fähig war, ihn zu vergessen; seine Mutter, die Tag für Tag einen langsameren, viel weniger ehrenwerten Selbstmord begangen hatte. Aber Andross Guile wollte kein Mitgefühl.
»Ich wollte sterben. Ich habe in Erwägung gezogen, ihr zu folgen und mir im Bad die Adern zu öffnen. Und weißt du, was mich gerettet hat?«
»Ich?«, fragte Kip zweifelnd.
»Ha! Bild dir ja nichts auf dich ein. Neun Könige. Die Zerstreuung hat mich gerettet. Selbst mein altes Herz braucht Zeit, mit seinem Kummer fertigzuwerden, aber diese Zerstreuungen haben mich lange genug am Leben erhalten, um es zu schaffen. Es hat mich geistig beschäftigt gehalten, dich mit kleinen Quälereien zu piesacken; da hatte ich etwas, worauf ich mich freuen konnte. Würdest du dieses Mal versagen? Was würde ich dir wegnehmen können, wenn du unser Spiel morgen verlöre? Wie konnte ich dich sonst noch auf die Probe stellen? So dass es dich aufs Äußerste strapazierte, dir aber auch eine Chance auf Sieg ließ?«
»Ihr habt mich nicht gewinnen lassen. Tut jetzt nicht so, als ob …«
»Pah! Glaubst du, mit deinen geistigen Fähigkeiten seist du mir gewachsen? Nun gut, ich werde dich weiter grübeln lassen. Jetzt schweig still, ich versuche mich bei dir zu bedanken.«
Kip verfiel in missmutiges Schweigen, kam sich plötzlich wieder wie ein Kind vor. Ohne seinen Zorn fühlte er sich in Andross’ hoheitsvoller Gegenwart völlig machtlos.
Andross seufzte. »So, das war’s. Danke. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
»Das ist alles?«, fragte Kip.
Sein Gegenüber ließ sich tiefer in seinen Sitz zurückfallen. Verzog das Gesicht. »Du hast dir meinen Respekt verdient, Kip. Du hast Widrigkeiten bewältigt, die so manchen zerstört hätten. Du hast mich überrascht. Nicht nur ein Mal, sondern mehrere Male. Wenn ich an dich denke, bin ich angewidert und enttäuscht, dass mein Sohn so etwas fabrizieren konnte. Und doch, trotz all dem Fett, dem vorlauten Mund und diesem völligen Mangel an Selbstbeherrschung, diesen tyreanischen Manieren und …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als gäbe es noch viel mehr an Kip auszusetzen, aber als stünde das jetzt nicht zur Debatte. »Trotz alledem, Kip, gewinnst du andauernd.« Seine Stimme wurde krächzend. »Ich habe jetzt meine Frau und alle meine Söhne verloren, so oder so. Vielleicht ist das ein wenig auch meine Schuld. Doch du, Kip, du hast den Beweis erbracht, dass du ein Guile bist. Ich werde dir keine Steine mehr in den Weg legen.« Er wandte sich ab und winkte Kip zu gehen.
Kip ging langsam und völlig konfus zur Tür.
»Vielleicht«, sagte der einsame alte Mann in der Dunkelheit, ohne sich umzudrehen, »vielleicht können wir eines Tages noch jenes letzte Spiel spielen, das du mir schuldest.«
Kip verließ die Kabine und schloss die Tür, während Grinwoody ihn missbilligend anblickte.
106
Gavin klopfte an die Tür, die auf den Balkon hinausführte, und ließ die beiden ziemlich durchgefrorenen Schwarzgardisten wieder herein. Sie vermieden jeden Augenkontakt und sahen vielmehr grinsend zu Boden. »Gut gemacht, Herr«, murmelte der eine halblaut. »Diese Frau hat eine gute Lunge«, sagte der andere an den ersten gerichtet, aber offenkundig mit Absicht so laut, dass es jeder hören konnte.
Der erste zwinkerte, alles andere als verstohlen, Karris zu, die ihr Gesicht bedeckte und reuig zu lachen begann. Es war, als wären sie ihre Brüder. Gavin hatte nicht vor, hier dazwischenzugehen. Dieses Verhältnis musste sich jetzt ändern, da sie seine Frau war. Aber Gavin wollte ihr nicht den Spaß nehmen. Lass den Dingen ihren Lauf. Sie würden sich automatisch ändern, wenn es an der Zeit war. Er läutete nach seinen Sklaven.
Marissia und eine andere Sklavin, eine dürre alte Frau mit einem Rücken, als hätte sie
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