Die Blendende Klinge
warmes Kleid, dann noch eins für jeden Tag – das wird aus Baumwolle aus dem Hochland von Atash gefertigt – und eines, um Eindruck zu machen. Sieht ganz so aus, als könntet Ihr auch ein paar neue Hemdkleider und neue Unterwäsche gebrauchen, nicht wahr?«
»Entschuldigt bitte! Normalerweise achte ich darauf … Na ja, es ist Krieg, wie Ihr wisst.«
»Natürlich, natürlich. Und bis es so weit ist, werde ich Euch ein sauberes Kleid beschaffen.«
Liv erhielt nicht nur ein sauberes Kleid, sondern auch ein heißes Bad, offensichtlich weil die alte Frau nicht wollte, dass Liv das Kleid schmutzig machte. Doch Liv hatte auch den Eindruck, dass die Schneiderin sich einfach darüber freute, jemanden zu haben, den sie verwöhnen und mit dem sie reden konnte.
Während sie sich mit dem Schwamm schrubbte und das heiße Wasser ihre Muskeln entspannte, kämpfte Liv gegen die Tränen an, die sie jeden Moment zu überschwemmen drohten. Sie atmete tief aus und hatte das Gefühl, dass sie sich anschließend besser fühlen würde, wenn sie jetzt weinen könnte, aber sie wollte kein rotes, aufgeschwollenes Gesicht haben. Sie war sich sicher, dass es der alten Frau nichts ausmachen würde – sie wirkte, als würde sie es verstehen –, aber Zymun würde wohl Fragen stellen, wenn er zurückkam, um sie abzuholen. Und wie kann man erklären, warum man geweint hat, wenn es zur Antwort entweder nur eines einzigen Wortes oder einer stundenlangen Rede bedürfte? Und begreifen würde er es ohnehin nicht. Sie würde einfach dastehen wie ein schwaches Mädchen.
Liv stieß erneut den Atem aus.
»Ihr seufzt recht viel«, bemerkte die alte Frau. Liv hatte nicht gesehen, dass sie hereingekommen war.
»Ist es Euch jemals so ergangen, dass sich alles, woran Ihr je geglaubt habt, als eine Lüge entpuppte?«
»Alles? Ist der Himmel denn jetzt grün?«
»Ich meinte nicht …«
»Nur ein Späßchen, Kind.« Die alte Frau schwieg für einen Moment, dann stieß sie ihrerseits einen kleinen Seufzer aus. »Ich habe geglaubt, mein Mann sei mir treu. Als sich das als falsch herausstellte, schien damit zugleich die ganze Welt zusammenzubrechen.«
Liv zögerte.
»Nein, Kind. Erzählt es mir nicht. Ich bin eine Fremde. Nehmt meine Freundlichkeit entgegen, aber seid nicht so unbefangen vertrauensvoll. Ihr seid eine schöne junge Frau an einem gefährlichen Ort. Wappnet Euch mit ein wenig Schutzkleidung. Vergesst nur nicht, was Eure Schutzkleidung ist und was Ihr selbst seid, damit Ihr den Schutz ablegen könnt, wenn es an der Zeit dafür ist.«
Die alte Frau ging hinaus, und Liv war sich bewusst, dass sie ihr mit ihren Worten eine größere Freundlichkeit erwiesen hatte, als wenn sie all den durch ihren Kopf schwirrenden Gedanken zugehört hätte, die sie innerlich aufwühlten.
Liv war ins Lager des Feindes gewechselt. Sie konnte sich mit der Behauptung entschuldigen, sie habe gehofft, mit ihrem Tun den Farbprinzen vielleicht dazu zu bewegen, Kip und Karris zu verschonen, und so war es ja auch gekommen. Aber die Wahrheit war, dass sie den Glauben an alles verloren hatte, was die Chromeria sie gelehrt hatte. Wenn die Frucht giftig ist, warum dann dem Baum Wertschätzung entgegenbringen?
Aber wenn die Chromeria selbst verderbt war, wie tief ging dann diese Verworfenheit? Wenn die Chromeria eine Lüge gelehrt hatte, wie vielen weiteren hatte sie sich dann noch verschrieben? Sie fühlte sich, als blicke sie in einen Abgrund. Wenn die Chromeria ein Hort der Verderbnis war und wenn sie zugleich eine der zentralen Quellen sein sollte, über die Orholam seinen Willen kundtat, was sagte das dann über Orholam selbst aus?
Wie konnte er eine solche Verderbtheit zulassen? Entweder kümmerte es ihn nicht, oder er hatte nicht die Macht, etwas dagegen zu tun, oder er existierte gar nicht. Trotz des heißen Badewassers verspürte Liv ein Frösteln. Es war ein Gedanke, der nicht mehr zurückgenommen werden konnte.
Aber es gab keine klare Antwort: Kümmert ihn nicht, kann nichts dran ändern oder existiert gar nicht. In jedem Fall war die Welt nicht so, wie Liv geglaubt hatte. Es war, als hätte man ihr den schönen, warmen Mantel tröstlichen Aberglaubens von den Schultern gerissen.
Dann war es eben so. Das war, was es bedeutete, eine Erwachsene, eine starke Frau zu sein. Ihr Vater hatte sie im Glauben an gewisse Dinge erzogen, aber ihr Vater war nicht allwissend. Er konnte sich irren. Und wenn er sich irrte, wollte Liv keine Duckmäuserin sein. Sie
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