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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Anthony
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hätte keine Vorstellungskraft, aber er hatte sich geirrt. Nun konnte ich mir durchaus vorstellen, dass jeder Mensch zum Schmuggler werden konnte, genauso wie jeder Mensch ein Soldat sein konnte. Man musste nicht böse sein, um das Gesetz zu missachten, und man musste keine Uniform tragen, um jemanden zu erschießen. Wenn ich diesen Mann verhaften und seine Spitze konfiszieren würde, dann würde ich bloß so sein wie der Leutnant. Der Leutnant, der einem Krüppel die Krücke fortgetreten und eine alte Frau strampelnd im Schlamm liegen gelassen hatte. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was passieren würde, wenn ich mit diesem Mann an die Grenze zurückkehrte. Die Spitze würde schon bald die Handgelenke des Leutnants zieren. Und das sollte gerecht sein? Dass die Grausamen am Ende belohnt und die Armen verhöhnt wurden?
    Särge und Uniformen.
    Flinten und Spitze.
    Was bedeutete das alles?
    Ich fühlte mich, als wüsste ich gar nichts mehr. Als wäre alles, was ich je zu wissen geglaubt hatte, gerade widerlegt worden. Aber wenn dem wirklich so war, was war dann die Wahrheit?
    Jeder konnte alles tun. Vielleicht … vielleicht war diese ganze Reise ein Zeichen gewesen. Vielleicht hätte ich Signy-sur-Vaux nie verlassen sollen. Sosehr ich das Dorf hatte verlassen wollen, so sehr hat mich das Schicksal wieder zurückgedrängt. Ich war vielleicht kein so guter Bäcker wie mein Vater, aber das Schicksal hatte mir gezeigt, dass ich auch kein guter Soldat war.
    »Legt Ihr nun vielleicht … Eure Waffe nieder?«
    »Oh. Oui. « Sie war sehr schwer geworden. Zu schwer, um sie mit sich herumzutragen. Ich hätte sie dort auf dem Boden liegen gelassen, wenn sie mir gehört hätte. Aber sie gehörte nicht mir; sie gehörte dem König. Ich klemmte sie mir unter den Arm. Meine Hände waren schweißnass.
    »Geht es Euch gut?«
    Ob es mir … »Wie bitte?«
    »Geht es Euch gut?«
    Ob es mir gutging? Was spielte das für eine Rolle? Ich konnte jemanden erschießen. Ich wusste nun, dass ich es konnte. Aber ich hatte auch gerade herausgefunden, dass ich es nicht wollte . Wenn ich kein Soldat sein wollte, was wollte ich dann sein?
    Alexandre klopfte mir aufmunternd auf den Unterarm und zog an dem Ochsen, um ihn wieder in Bewegung zu setzen. Wir gingen gemeinsam um die nächste Biegung. Dahinter wurde die Straße flacher und breiter. »Wenn wir in Signy-sur-Vaux angekommen sind, könnt Ihr mir dann vielleicht verraten, wo Pater Lemaire wohnt?«
    Ich warf einen Blick über die Schulter auf den Sarg. »Unser Dorf ist nicht sehr groß. Wir haben bloß eine Kirche. Aber … gehört dieser Mann überhaupt nach Signy?«
    »Nein.«
    Dieser Gedanke belastete mich weniger, als ich es mir gedacht hätte. »Wisst Ihr, wer er ist?«
    »Ein bösartiger Mensch, der gerade zum richtigen Zeitpunkt starb. Das ist vermutlich die einzige gute Tat, die er jemals begangen hat.«
    Ein Toter brauchte eine Beerdigung. »Wenn wir nach Signy kommen, zeige ich Euch die Kirche.« Und dann würde ich vergessen, dass ich Alexandre und seinen Sarg jemals zu Gesicht bekommen hatte. Während wir weitergingen, dachte ich über das nach, was ich gerade herausgefunden hatte.
    Ich war zu einem Soldaten geworden. Ich konnte jemanden erschießen. Aber ich hatte auch Hochverrat begangen. Ich hatte einen Mann laufen lassen, obwohl ich jedes Recht gehabt hätte, ihn zu verhaften.
    Ich hatte richtig gehandelt, doch gleichzeitig hatte ich auch das Falsche getan. Aber das Richtige schien so falsch zu sein, und das Falsche hatte sich so richtig angefühlt. Es gab hier keinen tiefen Abgrund zwischen Ja und Nein, zwischen Richtig und Falsch. Es gab bloß eine riesige, leere Ebene, und ich wusste nicht, wie ich dort leben sollte, genau in der Mitte, ohne die Sicherheit, die mir jede der beiden Seiten würde bieten können. Es war so viel einfacher gewesen, als ich noch gedacht hatte, dass Falsch und Richtig zwei vollkommen unterschiedliche Dinge waren. Dass man gewarnt wurde oder es bemerkte, wenn man die Grenze dazwischen übertrat.
    Aber wenn es richtig war, dem Leutnant zu gehorchen, und falsch, diesen guten Mann laufen zu lassen, dann hatte ich richtig gehandelt, indem ich das Falsche getan hatte. Wenn ich die Wahl hatte, ein mittelmäßiger Soldat oder ein mittelmäßiger Bäcker zu sein, dann konnte ich mit mehlbestäubten Händen besser leben als mit der Flinte in der Hand. Denn so konnte ich selbst entscheiden: Roggen oder Gerste. Weiß oder braun. Eine ehrliche Wahl für

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