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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Anthony
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stets freundlich gewesen.
    Ich beugte mich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Wange.
    Er blinzelte noch einmal.
    »Ach, Herry.«
    Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel.
    Ich kniete mich nieder und wischte sie mit dem Saum meiner Schürze fort.
    »Was würden deine Zunftgenossen wohl sagen, wenn sie erfahren, dass der alte Herry Stuer eine Heulsuse ist?« Ich schüttelte Marguerites Laken auf. Einmal. Zweimal. Dann ließ ich es auf Herry niedersegeln. »Ich werde es niemandem verraten.«
    Der arme Kerl. Wann hatte der alte Herry jemals jemandem etwas zuleide getan? Was hatte er getan, um ein solches Ende zu verdienen?
    »Du weißt ja, dass dieses Mädchen darum gebeten hat, sich um dich kümmern zu dürfen.« Obwohl jeder mit nur einem Fünkchen Verstand erraten konnte, dass sie erst darum gebeten hatte, nachdem sie erfahren hatte, wie viel Geld seine Zunftgenossen für seine Pflege zahlen würden. Der alte Herry war noch immer bei klarem Verstand. Ich sah es in seinen Augen. Er konnte sich vielleicht nicht bewegen und auch nicht sprechen, doch er konnte nach wie vor sehen. Und hören.
    Ich reagierte nicht schnell genug, und so lief ihm die nächste Träne aus dem Augenwinkel und über seine Wange. Sie bahnte sich ihren Weg über seinen Hals und hinterließ eine Spur auf seiner schmutzigen Haut. Ich stand auf, doch ich fand keinen Lumpen, weshalb ich den Saum von Marguerites zweitem Unterhemd nahm und ihn in einen Kübel mit Wasser tauchte. »Lass dich mal ansehen.« Ich schrubbte seine Mundwinkel sauber, wo der Speichel bereits eine Kruste gebildet hatte. Dann arbeitete ich mich zu seinem Kinn vor, wo sich die Überreste einer Gemüsebrühe in seinem Backenbart verfangen hatten. »Du warst immer ein Mann, der Wert auf eine gute Rasur und ein sauberes Hemd gelegt hat. ›Es geht nichts über den Anblick von Herry Stuer bei der Morgensprache‹, habe ich immer gesagt.« Ich tauchte das Unterhemd noch einmal ins Wasser und wrang es aus, so dass es beinahe trocken war. »Das habe ich wirklich. Es ist eine Tatsache.« Es konnte nicht schaden, den Mann wissen zu lassen, wie sehr ich in ihn vernarrt gewesen war. Obwohl er älter war, hatte er etwas an sich. Wenn er bloß nicht hinter all den anderen Mädchen her gewesen wäre. So ein freundlicher, guter Mann. »Also, soll ich dich rasieren?«
    Ich würde es tun. Und ich tat es auch. Ich hatte genügend Zeit. Sollte Marguerite zurückkommen, bevor ich gegangen war, wäre das ein Wunder, das mit der jungfräulichen Geburt gleichgestellt werden konnte. Lediglich Pater Jacqmotte wartete auf mich, und der steckte zurzeit lieber den Kopf in seine Bücher und beschäftigte sich mit dem Himmlischen, so dass ich bezweifelte, ob er überhaupt gemerkt hatte, dass ich nicht da war.
    Es war schön, zu sehen, wie Herrys Gesicht langsam wieder zum Vorschein kam. Und ich war auch der Meinung, dass es ihm guttat. Ich legte eine Hand auf seine Wange. Einfach so. Wer sollte mich davon abhalten? Und wer außer Herry würde jemals von meiner Torheit erfahren? Seine Wange fühlte sich so weich an. Aber auch hager. Und es wurde jeden Tag schlimmer. Er würde nicht mehr lange hier sein. Doch das wusste er vermutlich so gut wie ich, es gab also keinen Grund, sich lange darüber Gedanken zu machen. Der Tod würde uns alle früh genug zu sich holen.
    Ich tätschelte seine Hand und nahm sie schließlich in meine. Natürlich musste ich seine Finger um meine schließen, doch seine Hand fühlte sich angenehm schwer an, als sie in meiner lag.
    »Ach, wir sind doch wirklich zwei Narren. Du, weil du noch immer hier bist. Und ich, weil ich mir so lange Zeit gelassen habe.« Dann vergoss auch ich eine Träne für den Mann, dem nichts mehr geblieben war als sein Verstand, und für die Frau, der nichts mehr geblieben war als ihre Arbeit. Ich saß neben ihm und hielt seine Hand, bis ich hörte, dass Marguerite auf das Haus zukam.
    Der Teufel höchstpersönlich hätte Marguerite, die wieder einmal von einem Mann begleitet wurde, gehört. Das fröhliche Gekreische, das dröhnende Gelächter.
    Ich ließ Herrys Hand los und legte sie unter das Laken, das ich über ihm ausgebreitet hatte. Sicherlich würde sie dort die ganze Nacht über liegen bleiben.
    Ich öffnete die Tür, als ich das Stroh rascheln und Marguerite fluchen hörte. »Du hättest das Stroh wegkehren müssen!«
    Ich versteckte ein Lächeln hinter meiner vorgehaltenen Hand und schob das Stroh mit der Spitze meines Holzpantoffels zur Seite,

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