Die Blueten der Freiheit
selbst wir wissen, wo der gesunde Menschenverstand aufhört und der Wahnsinn beginnt. Du willst so sauber sein, dass du deshalb schon krank geworden bist.« Sie beschrieb mit dem Finger einen Kreis über ihrem Ohr, während sie sprach.
Wenn ich wirklich an Aussatz hätte erkranken sollen, wäre es dann nicht schon längst geschehen? Und wenn jemand hätte herausfinden sollen, wer mein Vater war, hätte er es dann nicht schon längst getan? »Wasche dein Gesicht und deine Hände und von Zeit zu Zeit deine Kleider, und dann lass es dabei bewenden. Du kannst nicht alles loswerden. Nicht zu dieser Jahreszeit. Und außerdem machst du den Kindern Angst.«
Ich lehnte mich zur Seite, um an ihr vorbeizusehen, und sah, wie mich die Kinder von der Tür aus beobachteten.
Du kannst nicht alles loswerden.
Hatte ich etwa genau das versucht? Hatte ich versucht, alle Spuren meines Vaters loszuwerden? Mich zu häuten, um die Wahrheit über meine Vergangenheit zu verbergen? Um jemand zu sein, der ich nicht war?
Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht konnte ich nur so rein sein, wie ich eben war.
Kapitel 15
Katharina Martens
Lendelmolen, Flandern
E ines Tages saßen wir nebeneinander auf unseren Bänken, als plötzlich ein Rascheln von Mathild zu mir herüberdrang. Sie schrie auf, und ich hörte, wie ihre Spulen auf den Boden fielen.
Das Undenkbare war passiert!
Sie hatte ihr Kissen fallen gelassen. Nun war all ihre Arbeit zunichtegemacht worden. Denn obwohl alles dafür getan wurde, die Werkstatt sauber zu halten, war es undenkbar, dass die Spitze den Kontakt mit dem Fußboden heil überstand. Ich hätte am liebsten geweint, so ungerecht war es, dass eine so wunderschöne Länge Spitze nun unbrauchbar geworden war.
»Was ist hier los?« Ich hörte die Schritte der Schwester auf dem Fußboden und klammerte mich an mein eigenes Kissen, damit sie nicht mich beschuldigen konnte.
»Mathild?«
Mathild drückte sich an mich.
»Geh!«
Mathild erhob sich, doch als sie einen Schritt machen wollte, muss sie wohl gestolpert sein, denn sie fiel zu Boden.
»Hilf mir.« Zum ersten Mal sprach sie, ohne zu flüstern. Ich hörte sie klar und deutlich. Dennoch klang ihre Stimme tot. Sie hatte kein Leben mehr in sich.
»Steh auf!«
»Ich kann nicht.«
»Sofort!«
»Ich kann nicht. Meine Schuhe – die Fäden!«
»Du machst alles kaputt. Alles.«
Mathild hatte sich auf die Knie hochgestemmt. Sie musste sich wohl genau vor meinen Beinen befinden, denn ich spürte, wie sie ihre Schulter gegen mein Knie drückte. Sie weinte. »Ich … kann nichts mehr sehen.«
»Komm.« Ich sah den Umriss der Schwester, die sich nach vorne beugte und Mathilds Arm packte, um sie vom Boden hochzuziehen. Sie zerrte so fest an ihrem Arm, dass Mathild aus ihren Schuhen gerissen wurde. Zumindest vermutete ich das, denn ich hörte, wie ihre nackten Füße über den Boden schlurften. Die Schwester bewegte sich mit ihr auf die Treppe zu, doch dann hielt sie plötzlich inne. »Katharina.«
Ich hob meinen Kopf, als ich ihre Stimme hörte.
»Pass auf die anderen auf. Behalte sie im Auge.«
Ich nickte, obwohl ich wusste, dass ich nicht besser sehen konnte als Mathild. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch mir fehlten die Worte. Also sagte ich nichts. Um mich herum arbeiteten alle weiter, als wäre nichts geschehen. Trotz der Unordnung auf dem Boden. Trotz des Paares leerer Schuhe.
Als die Schwester zurückkam, nahm sie Mathilds Kissen und legte es neben mir auf die Bank. Bald schon gesellte sich ein anderes Mädchen – ein jüngeres Mädchen – von der anderen Seite des Raumes zu mir und nahm Mathilds Platz ein.
Mathild war bis zur Gebetsstunde nicht wieder zurück, und sie fehlte auch beim Abendessen. Als ich mich an diesem Abend auf meine Pritsche fallen ließ, lag das neue Mädchen aus der Werkstatt auf Mathilds Platz.
Am nächsten Tag stieg ich hinter allen anderen Mädchen als Letzte die Treppe hoch. Ich war nun die älteste Spitzenmacherin. Ich begann mich zu fragen, was wohl aus mir werden würde.
Und was aus Mathild geworden war.
War sie nun draußen bei den Menschen, deren laute Stimmen ich außerhalb der Klostermauern hörte? Und stimmte es, was Heilwich gesagt hatte? Dass die Mädchen, die nicht mehr in der Werkstatt arbeiteten, böse Dinge taten?
Und welche bösen Dinge hatte sie gemeint? Brachten sie Dinge durcheinander, missachteten Befehle und trugen dazu bei, dass andere Menschen sich verspäteten?
Ich konnte mir ein
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