Die Blueten der Freiheit
mehreren Schichten Schmutz bedeckt waren.
»Ich sag dir was, Franzose. Es gibt keinen anderen Ort, an den wir gehen könnten.«
Keinen anderen Ort, an den sie gehen könnten.
Nun, das konnte ich nachvollziehen. Was trieb einen Mann dazu, sich gegen Gott und die Natur zu stellen, gegen den Schlamm und den Regen anzukämpfen und dem Meer Land abzuringen, das niemals an die Oberfläche hätte gelangen sollen? Doch bloß die Tatsache, dass er keine andere Wahl hatte. Wenn er überleben wollte, dann musste er das Unmögliche möglich machen, musste sein Leben damit verbringen, das Unerträgliche zu ertragen. Er musste mit allen Mitteln – und seien sie noch so sinnlos und unnütz – versuchen, dem Unsinn einen Sinn zu geben.
Es gab keinen anderen Ort, an den sie hätten gehen können, deshalb mussten sie dem Meer ihren Lebensraum abringen.
Ich fand keine andere Erklärung und keine bessere Antwort. Die Dinge mussten so sein, wie sie waren, bloß weil das eben der Lauf des Lebens war. Und da stand ich nun in dem trüben Kanal, während der Regen auf meinen Kopf prasselte, und lachte, wie ich noch nie zuvor gelacht hatte. Ich lachte, bis ich zu weinen begann und sich meine Tränen mit dem Regen und dem Schweiß vermischten. Alles lief mir über das Gesicht und vermischte sich mit dem Wasser, für das es keine Rolle spielte, woher es kam.
Es gab keinen anderen Ort, an den sie hätten gehen können.
Wie passend, dass meine Reise hier ihr Ende gefunden hatte. Es gab nichts mehr auf dieser Welt für mich außer dieser einen Sache. Dieser einen Aufgabe: Ich musste diesen Deich erneuern, der nicht erneuert werden konnte. Und danach musste ich dem Grafen von Montreau seine Spitze liefern. Und danach? Es gab kein Erbe mehr, kein Château, kein Zuhause.
Doch ich würde tun, was ich zu tun hatte, weil ich es einfach tun musste.
Die Ladung Lehm, die wir gerade auf dem Deich abgeladen hatten, rutschte den Hang hinunter und wurde von dem Wasser im Kanal fortgespült.
Es war unmöglich, nach einer derartigen Arbeit wieder sauber zu werden. Das Wasser aus dem Brunnen war beinahe so lehmig wie der Boden. Dennoch kniete ich jeden Abend vor dem Brunnen nieder und versuchte, mir den Schlamm, der sich während des Tages angesammelt hatte, abzuwaschen. Am ersten Abend beobachtete mich der Bauer schweigend, doch dann ließ er mich alleine.
Am vierten Abend hatte ich mir alle Haare von den Armen geschrubbt, und meine Haut hatte eine rote Färbung angenommen. Am fünften Abend lieh ich mir ein Messer aus, um meine Fingernägel zu reinigen. Doch die Spitze grub Furchen unter die Nägel, die sich in den nächsten Tagen mit Schmutz füllten.
Am Ende der ersten Woche schrubbte ich mich noch sorgfältiger sauber, da ich vorhatte, dem Kloster einen Besuch abzustatten, um zu sehen, wie es mit meiner Spitze voranging, und den Nonnen mitzuteilen, wo sie mich finden konnten. Ich zog mir beinahe selbst die Haut ab, und als ich versuchte, den Schmutz unter meinen Fingernägeln zu entfernen, riss ich mir einen ganzen Nagel vom Finger. Die Stellen, an denen ich die oberste Hautschicht bereits abgeschrubbt hatte, hatten zu nässen begonnen.
»Hör sofort mit diesem Blödsinn auf!« Ich hatte gerade den Schaden begutachtet, den ich angerichtet hatte, und hob den Kopf. Die Frau des Bauern starrte mich an. »Was versuchst du hier eigentlich loszuwerden? Das sind doch bloß die Überreste von Gottes guter Erde.« Sie deutete auf die Wunden, die ich gerade versuchte, sauber zu schrubben. »Bist du dir zu gut für Gott? Ist es das?«
Zu gut für Gott?
»Du verletzt dich doch nur selbst. Und außerdem kannst du nur so rein sein, wie du eben bist.«
Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, schämte ich mich für meinen Waschzwang. Ich hatte immer schon gewusst, dass es seltsam war, aber ich war stets der Meinung gewesen, dadurch reiner als die Menschen um mich herum zu werden. Ich hatte mich sauber gefühlt. Doch hier war das Waschen ebenso vergebens wie das Erneuern des Deiches. Am nächsten Tag würde ich genauso schmutzig sein wie zuvor. Und außerdem würde ich mir bald sämtliche Haut vom Körper geschrubbt haben.
Ich leerte Wasser auf meine Hände und spritzte es mir ins Gesicht. Ich rieb es in meinen Bart, der noch so kurz war, dass er juckte. Ich sah nun aus wie ein echter Niederländer. Nicht einmal Lisette hätte mich mehr erkannt. »Die Flamen sind ja bekannt dafür, besonders sauber zu sein, nicht wahr?«
»Ja«, nickte sie. »Aber
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