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Die Blueten der Freiheit

Die Blueten der Freiheit

Titel: Die Blueten der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Anthony
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solches Leben nicht vorstellen. Viel schlimmer war jedoch, dass ich mir ein Leben ohne Spitze nicht vorstellen konnte. Meine Schwester hatte gesagt, dass sie mich befreien würde. Aber wovor wollte sie mich befreien? Wenn ich keine Spitze mehr herstellte, was konnte ich stattdessen tun?
    Ich konnte nichts mehr sehen. Zumindest sah ich die meisten Dinge nicht mehr. Was würde ich in einer Stadt, die voller Menschen mit lauten Stimmen war, tun? Was konnte ich tun?
    Ich bekam Angst. Sie wirkte sich auf meine Arbeit aus, und so tanzten meine Spulen nicht mehr, sondern taumelten nur noch, während meine Finger immer öfter zögerten. Also beschloss ich, mir keine Gedanken mehr darüber zu machen und nicht mehr an die Welt außerhalb der Klostermauern zu denken. Warum sollte ich auch?
    Ich liebte meine Spitze.
    Die Spitze war mein Leben. Sie war der Grund für meine Existenz.
    Wozu wäre ich sonst erschaffen worden? Wenn Gott in all seiner Gnade mir dieses Leben geschenkt hatte, dann sicher, um genau das zu tun. Diese erlesene, wunderschöne Spitze zu erschaffen war meine heilige Pflicht. Das hatten mir die Nonnen zumindest erklärt.
    Und ich glaubte daran.
    Warum sollte Gott also zulassen, dass ich diese eine Aufgabe nicht mehr ausführen durfte? Die einzige Aufgabe, der ich gewachsen war und die der einzige Grund dafür war, dass ich erschaffen wurde? Sicher würde er es nicht einfach so zulassen. Ich liebte meine Spitze.
    Mathild hatte sie nicht geliebt.
    Es war nicht die Tatsache gewesen, dass sie ihr Muster vergessen hatte, die sie verraten hatte. Es war die Tatsache gewesen, dass sie die Spitze nicht geliebt hatte. Denn wie konnte einem die Erinnerung an etwas abhandenkommen, das man liebte? Selbst in der immer schwärzer werdenden Dunkelheit hätten ihr die Muster den Weg weisen müssen.
    Den ganzen Tag über tastete ich nach meinen Spulen und fand Zuflucht darin, die Anzahl meiner Maschen mit den Fingern zu erfühlen, während mir immer mehr zu Bewusstsein kam, dass ich der Spitze, die ich erschuf, keine Hilfe mehr war, sondern bloß noch ein Hindernis. Sie entstand nicht mehr durch meine Hand … doch ohne mich konnte sie ganz sicher auch nicht entstehen.
    Der Tanz würde bald zu Ende gehen.
    In diesem Moment erkannte ich meine größte Sünde. Stolz. Eitelkeit. Es war nicht meine Liebe zu meiner Spitze, die es mir ermöglicht hatte, so großartige Arbeit zu leisten. Es war meine Eitelkeit, die mich hinters Licht geführt hatte. Ich war nicht besser als Mathild, nicht besser als jede andere Spitzenmacherin in der Werkstatt. Ich war bloß eitler als sie. Doch als ich mein Gesicht näher an mein Kissen brachte, lächelte ich. Vielleicht wohnte meiner Eitelkeit doch eine gewisse Demut inne. Niemand musste wissen, wer ich war. Es war genug, wenn die Spitze das Kloster verlassen und eine Chance bekommen würde, zu leben und geliebt zu werden. Nee. Es spielte keine Rolle. Niemand brauchte meinen Namen zu erfahren.

    Die drei Wochen, die Heilwich mir gegeben hatte, waren beinahe vorüber. Wir unterhielten uns, während sie mir einen Laib Brot durch das Loch in der Mauer zuschob. »Ich weiß, ich habe dir versprochen, dich hier rauszuholen, aber ich habe das Geld noch nicht beisammen. Noch nicht.«
    »Die Spitze ist beinahe fertig.«
    »Beinahe?«, schrie Heilwich mich an. »Aber ich bin noch nicht so weit! Du darfst noch nicht fertig sein!«
    »Sie wissen nicht, dass ich beinahe fertig bin. Ich habe es ihnen noch nicht gesagt.« Ich wollte mich nicht von der Spitze trennen. Ich hoffte, dass Gott mir vergeben würde.
    »Gut. Gut! Sag es ihnen nicht. Du darfst es ihnen nicht sagen, bis ich das Geld beisammenhabe.«
    »Aber sie werden es bemerken. Sie werden meine Arbeit bald kontrollieren, und ich werde es nicht vor ihnen verbergen können.«
    »Wann?«
    »Am Samstag. Sie kontrollieren die Arbeit immer am Samstag.« Es sei denn, wir zeigten sie ihnen bereits vorher. »Bis dahin bin ich sicher fertig.«
    »Am Samstag! Ich weiß nicht, ob ich das Geld bis Samstag beisammenhaben werde. Außerdem kann ich am Samstag ohnehin nicht zu dir kommen. Pater Jacqmotte würde mich niemals gehen lassen. Wir müssen doch alles für Sonntag vorbereiten. Ich brauche einen halben Tag, um hierher- und wieder zurückzukommen. Aber … was passiert, wenn sie herausfinden, dass du fertig bist?«
    »Dann geben sie mir ein anderes Muster.«
    »Dann beginnst du eben mit einem neuen Muster.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
    »Warum

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