Die Blueten der Freiheit
»Ich habe vierundzwanzig Vettern und Basen.«
»Wie bitte?«
»Vierundzwanzig. Achtzehn leben in Signy-sur-Vaux. Das ist mein Heimatdorf. Drei leben in Signy-l’Abbaye. Und drei in Dommery.«
Er sagte nichts.
»Zwei davon sind Vettern vierten Grades.«
»Eine große Familie.«
» Oui. Aber ich kenne sie alle. Und ich weiß, woher sie stammen. Drei heißen Anne. Fünf Jeanne. Vier Jean. Sechs Pierre. Drei Jacques und zwei Michel. Und einer heißt Louis.« Alles in allem war es eine feine, ehrenwerte Gruppe. Wenn man von mir absah, denn ich war gerade von meinem Posten abgezogen worden. Und abgesehen von einem der Pierres, der einmal Äpfel aus dem Garten des adeligen Herrn gestohlen hatte. »Wie war sein Name?«
»Sein Name?«
»Sein Name. Wie hieß er?«
»Sein Name war … Paul.«
»Paul …? Non. Non, ich kenne keinen Paul. Ich könnte mich daran erinnern, wenn ich einen Paul kennen würde. Das ist kein gewöhnlicher Name. Seid Ihr sicher, dass er Paul hieß?«
»Warum sollte er anders geheißen haben?«
»Es scheint mir bloß ein seltsamer Name zu sein. Für jemanden aus Signy-sur-Vaux.«
Wir gingen weiter.
»Er hieß also Paul und soll in Signy begraben werden.«
»Oui.«
»Bei welcher Familie?«
»Wie bitte?«
»Ich kannte Paul vielleicht nicht, aber ich kenne vermutlich seine Familie.«
Der Mann – Alexandre – starrte mich lange an. »Sein Tod hat mich schwer getroffen. Macht es Euch etwas aus, wenn wir nicht mehr darüber sprechen?«
»Oh. Non. Non. Ich bin selbst ein wenig traurig.«
Erst nach einigen Meilen sagte der Mann wieder etwas. Er teilte mir mit, dass er anhalten wollte, um sich zu erleichtern. Ich nutzte die Gelegenheit und verschwand mit ihm im Wald. »Ich war als Grenzsoldat für Warenverkehr im Einsatz, doch nun wurde ich nach Signy-sur-Vaux beordert.«
Der Mann knöpfte seine Kniehose zu.
»Ich wurde fortgeschickt, weil ich keine Spitze finden konnte.«
»Spitze?« Sein Kopf fuhr zu mir herum.
»Sie wird nach Frankreich geschmuggelt. Von den Franzosen. Nicht dass ich jemals einen dabei erwischt hätte.« Ich musste über meine Schulter zu ihm sprechen, damit er mich sicher verstand. Er hatte sich bereits auf den Weg zurück zum Sarg gemacht. »Das war das Problem. Ich habe nie welche gefunden.« Ich sprach lauter, damit er mich auch hörte.
Er trieb den Ochsen an und war schon ein Stück weit die Straße hinuntergekommen, als ich ihn schließlich einholte.
»Warum glaubt Ihr, machen die Menschen so etwas?«
»Was?«
»Spitze schmuggeln. Der König hat es strengstens verboten.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich verstehe nicht, warum sie so etwas tun.« Ich nahm meinen Hut ab und kratzte mich an einer juckenden Stelle hinter meinem Ohr.
»Die Menschen machen viele Dinge, die nicht einmal sie selbst verstehen.«
»Was ist mit Euch?«
»Mit mir? Was soll mit mir sein?«
»Was wäre, wenn Ihr Spitze schmuggeln wolltet? Was würde Euch dazu bringen, es zu tun?« Ich kratzte mich noch einmal am Kopf, bevor ich den Hut wieder aufsetzte. Ah, so ist es gut! Cecilles Mutter hätte heute Abend die Läuseeier aus meinen Haaren entfernt, wie sie es auch beim Rest der Familie tat. Ein weiterer Nachteil, dass ich gegangen war. Nun gut. Dann musste ich eben leiden, bis ich zu meiner eigenen Mutter in Signy-sur-Vaux zurückgekehrt war.
»Ehre.«
»Wie bitte?«
»Ehre würde mich dazu bringen, Spitze zu schmuggeln.«
»Ihr würdet im Namen der Ehre etwas Unehrenhaftes tun?« Das ergab keinen Sinn. »Ihr wisst, dass ich Euch erschießen könnte, wenn Ihr Spitze schmuggeln würdet. Oder ich könnte Euch verhaften lassen. Das wäre sehr unehrenhaft. Und ein Richter könnte Euch eine Geldstrafe auferlegen.«
»Wenn mich aber jemand darum gebeten hätte, dessen Leben davon abhängt?«
»Warum sollte sein Leben davon abhängen? Und wie könnt Ihr jemandem Respekt entgegenbringen, der Euch bittet, etwas Unehrenhaftes zu tun?« Der Leutnant hatte genau das von mir erwartet: dass ich etwas Unehrenhaftes tat. Und was hatte ich stattdessen getan? Ich war davongelaufen. Nach Signy-sur-Vaux. Man bekam den Lohn für seine guten Taten nicht immer in diesem Leben. Das hatte der Priester in meinem Heimatdorf immer wieder gesagt.
»Was wäre, wenn ich diesem Mann mein Leben verdankte?«
»Er hat also … Euer Leben gerettet?«
» Oui. Er hat mein Leben gerettet.«
»Wenn er Euer Leben gerettet hat …« Ich dachte eine Weile darüber nach. Wie viel schuldete man einer
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