Die Blütenfrau
aufzudecken. Gerade noch hatte sie mit Greven und Britzke die wichtigsten Ergebnisse durchgesprochen und Wesselmanns Überführung aus dem Untersuchungsgefängnis geplant. Sie und Riemer waren als Begleitpersonen beim Gefangenentransport eingeteilt. Wesselmann sollte im Wagen der Spurensicherung Platz nehmen, während der offizielle Gefangenentransporter mit ein paar Kollegen von der Streife bestückt war. Ein Ablenkungsmanöver, eine komplizierte Aktion, aber wahrscheinlich sinnvoll, wenn man die Menschenmenge gegenüber dem Polizeigebäude berücksichtigte: Etliche Protestierende hatten sich dort eingefunden, ihre Transparente forderten Kastration, lebenslänglich oder gleich die Todesstrafe für Kinderschänder.
Kerstin war hundemüde und hatte keine Ahnung, wie sie in weniger als einer Stunde wieder volle Konzentration bringen sollte. Vielleicht brauchte sie nur einen Kaffee und ein paar Augenblicke Ruhe. «Ich geh nochmal kurz ins Labor», sagte sie zu Greven.
«Du weißt, in einer Viertelstunde kommt der Bulli, der Wesselmann abholen soll.»
«Bis dahin bin ich wieder da.»
Die Flure erschienen ihr seltsam leer. Die Hektik der letzten Tage war einer abgekämpften Ruhe gewichen. Kerstins Schritte klackerten durch das Treppenhaus. Ein paar Momente allein sein, ja, das brauchte sie. Am Schreibtisch sitzen, auf die Straße gucken, vielleicht an nichts denken – wenn sie das schaffte.
Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, Stimmen in den Laborräumen zu hören. Wer konnte jetzt noch dort sein? Ach ja, der Praktikant. Den hatte sie vergessen. Aber er war ein stiller Typ, er würde sie in Ruhe lassen. Wenn es ihr gelang, sich an seinem kleinen Büro vorbeizuschleichen, bemerkte er sie vielleicht noch nicht einmal. Mit wem sprach er da eigentlich?
Kerstin schob sich an der angelehnten Tür vorbei und erkannte den grauen Ärmel von Dr. Erbs schickem Anzug. Was machte der denn da? Wollte er sich etwa von der ganzen Polizeibehörde persönlich verabschieden, bevor er endlich wieder nach Hannover verschwand? Und da fing er ausgerechnet beim kleinsten Praktikanten an.
«Nein, nehmen Sie doch morgen den Zug», hörte sie Erbs Stimme.
«In Aurich gibt es aber keinen Bahnhof.»
«Dass wir zusammen mit dem Auto gekommen sind, ist zwar niemandem aufgefallen. Aber wenn ich Sie wieder mit nach Hause nehme … Wir können uns keine neugierigen Blicke leisten.»
Ein seltsames Gespräch. Was hatte Erb mit ihrem Praktikanten zu schaffen? Kerstin blieb stehen und versuchte, kein Geräusch zumachen. Irgendwie wusste sie, es war besser, wenn die beiden nicht mitbekamen, dass sie beobachtet wurden.
«Wegen des Geldes machen Sie sich mal keine Gedanken. In den nächsten Tagen wird die abgemachte Summe schonauf Ihrem Konto landen. Sie haben ja wirklich gute Arbeit geleistet. Man ist mit Ihnen zufrieden.»
«Ich will lieber gar nicht wissen, wen Sie mit
man
meinen …»
«Keine Sorge, Sie haben für einen guten Mann gearbeitet. Und wenn alles glatt läuft, werden Sie schon bald eine angenehme Polizeikarriere beginnen. Männer, denen man vertrauen kann, werden von den Entscheidungsträgern geschätzt.»
«Danke für das Lob.»
«Keine Ursache. Also … War nett, Sie kennengelernt zu haben.»
Kerstin hörte Schritte auf die Tür zukommen. Sie beeilte sich, um hinter einem voll gepackten Regal Stellung zu nehmen, und hielt die Luft an. Aber gerade als Erb auf den Flur trat, klingelte das Telefon an der Wand direkt neben ihr. Sie erschreckte sich furchtbar. Kein Wunder, ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Was sollte sie tun? Einer dieser beiden Männer würde gleich an den Apparat gehen. Und der Anruf war wahrscheinlich sowieso für sie bestimmt. Ihr Versteck war damit aufgeflogen. Sie tat so, als sei sie gerade ums Eck gekommen und nahm den Hörer ab.
«Kerstin hier.»
Erb stand jetzt direkt vor ihr und starrte sie an. Sicher glaubte er, mit seinem durchdringenden Psychologenblick erkennen zu können, ob sie etwas mitbekommen hatte, und wenn ja, wie viel. Doch Kerstin lächelte ihn einfach nur an und winkte ihm zu. Wahrscheinlich hielt er sie sowieso für ein Dummchen, so wie er sich die letzten Tage ihr gegenüber verhalten hatte. Sollte er ruhig weiter glauben, sie sei zu blöd, um etwas mitzukriegen.
Pal war am Apparat und informierte sie darüber, dass der Bulli bereitstand.
«Bin schon unterwegs», sagte Kerstin und legte auf.
Erb stand immer noch breitbeinig im Flur. Zu gern hätte sie gewusst,
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