Die Blütenfrau
Sendhorst saß.
Doch Wencke glaubte nicht daran, dass sie mit Rüdiger Wesselmann den Richtigen gefasst hatten. Es passte nicht zusammen. Für sie stand fest, dass der wahre Täter sich heute Nacht selbst gerichtet hatte. Und das hier konnte nichts anderes sein als ein ganz großes Versehen. Oder irgendetwas anderes, von dem sie alle noch keine Ahnung hatten. Eine Verschwörung? Das klang zwar auch unrealistisch, aber immer noch plausibler als das, was man ihnen hier und heute als Wahrheit verkaufen wollte.
Wencke war nervös.
Der Wagen stoppte etwa fünf Meter vor der Treppe, auf der sie stand. Von der Rückbank winkte Kerstin. Nicht in ihre Richtung, das war eindeutig. Axel stand steif wie ein Plastik-Ken ein Stück weiter links. Eigentlich wollte Wencke etwas sagen, eine giftige Bemerkung loslassen, aber dann bremste sie sich. Jetzt nicht. Wenn überhaupt, dann später.
Sie blickte sich um. Die Leute aus ihrer Abteilung hatten sich neben dem Tor positioniert. Für einen Fahndungserfolg wirkten sie alle viel zu niedergeschlagen. Pal nickte in WenckesRichtung, sie sah müde aus. Die Durchsuchung von Wesselmanns Wohnung und das Auffinden der verstörten Griet Vanmeer hatten ihr zugesetzt. Trotzdem hatte sich die neue Kollegin bei ihrem ersten Mordfall gut geschlagen, da waren alle sich einig.
Weiter hinten, auf dem Parkplatz bei seinem protzigen Mercedes, stand Dr. Erb mit seiner Aktentasche. Die Begrüßung war mehr als kühl ausgefallen, und er hatte betont, so bald wie möglich zurück nach Hannover zu müssen, seine Sekretärin sei krank geworden und die Praxis verwaist. Es war Wencke herzlich egal, wann und wohin er verschwand, Hauptsache, er tat es. Eine große Hilfe war er ohnehin nicht gewesen. Sollte sie tatsächlich diese Ausbildung in den USA machen (und in diesem Moment zog sie es tatsächlich ernsthaft in Erwägung), dann würde sie nicht so werden wie dieser Möchtegernprofiler, der außer Plattitüden nichts aus seinem gebildeten Hirn zur Auflösung beigetragen hatte. Eine Randfigur in diesem Fall, mehr war er nicht gewesen, auch wenn er noch so gern eine entscheidende Rolle gespielt hätte.
Zwei Beamte schoben jetzt die Wagentür auf. Wencke hielt den Atem an. Der Mann in Handschellen wirkte teilnahmslos. Er hatte schon aufgegeben. Aber war Resignation mit einem Geständnis gleichzusetzen? Vielleicht war Wesselmann einfach nur ein Verlierer, ein Pessimist, der es gewohnt war, nicht allzu viel vom Leben zu erwarten.
Beim Aussteigen stolperte er über seine Beine und ging zu Boden wie ein schwerer Sack. Der Abtransport geriet ins Stocken. Die hektischen Beamten, mit denen Wesselmann durch die Handschellen verbunden war, verhakten sich untereinander und fielen ebenfalls hin. Sie fluchten entsprechend laut. Kerstin war gerade dabei, den Wagen zu verlassen, doch der Tumult versperrte ihr den Weg. Sie wartete inder Türöffnung und schaute hinüber, nicht zu Axel diesmal, nein, sie blickte Wencke direkt in die Augen. Mit fragendem Blick. Erst dachte Wencke, sie hat vielleicht etwas mitbekommen von dem Kuss und dem, was auf Spiekeroog geschehen ist. Doch dann sah sie, dass Kerstin ihrem fragenden Ausdruck eine Geste hinzufügte. Sie tippte sich auf die Handfläche, hielt sie dann ans Ohr und formte mit ihren Lippen etwas Undefinierbares. Was wollte sie? Telefonieren?
Als Wencke sich gerade zu Axel umdrehte, um zu sehen, ob er vielleicht in der Lage war, diese Zeichen zu deuten, blieb ihr Blick an etwas hängen. Ein Mann näherte sich vom Tor aus dem Wagen mit langsamen Schritten. Sie konnte ihn nur von hinten sehen, er war nicht allzu groß und hatte eine Halbglatze. Er gehörte dazu und auch wieder nicht. Er war Teil des Falles, und auch wieder nicht. Und ganz bestimmt war nicht geplant, dass er hier nahezu unbewacht in den Innenhof spazierte.
Wenckes Körper reagierte schneller als ihr Bewusstsein. Das Bauchgefühl hatte wieder einmal die Steuerung übernommen, und so rannte sie bereits hinter diesem Mann her, als ihr klar wurde, dass es Allegras Vater war. Und er hatte eine Waffe in der Hand. Das konnte nicht wahr sein. Der sanfte Peter Sendhorst … Warum hatte niemand auf ihn achtgegeben?
Der Mann bewegte sich wie in Zeitlupe. Und zwar zielgenau auf Rüdiger Wesselmann zu, der noch immer halb am Boden hockte und erst einmal seine Beine sortieren musste.
Wencke schrie irgendetwas. «Nein! Nicht schießen! Bitte nicht, er ist unschuldig, nicht schießen! Halt!» Sie schrie laut. Und doch
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