Die Blütenfrau
Verhältnisse beinahe überirdisch, und er schlug ihr kumpelhaft auf den Rücken. «Unsere Wencke wird zur Profilerin weitergebildet. Mannomann. Wer hätte das gedacht?»
Sie fand es rücksichtslos, dass er ihr gratulierte und immer wieder ganze Sätze aus dem Schreiben vorlas. Fast übertrieben betonte er die wichtigsten Worte und lachte dabei: «… Da Sie insbesondere durch Ihre
intuitive Ermittlungsarbeit
immer wieder unter Beweis gestellt haben, dass die Polizei in Deutschland auch einmal jenseits der Aktenordner ermitteln muss … Ich lach mich kaputt, Wencke! … Wir würden uns
sehr freuen
, wenn Sie unserer Bitte nachgehen würden … Der niedersächsische Innenminister bittet dich, meine Güte!»
Wieso freute Axel sich so für sie? Es tat ihr weh.
Denn immerhin stand in dem Brief, dass der Polizeipräsident ausgerechnet sie – Wencke Tydmers aus Aurich – auserwählt hatte, bei einem Auswahltest für eine Weiterbildung zum Fallanalytiker mitzumachen. Aus jedem Bundesland wurde nur ein Kandidat ernannt, den man für würdig hielt.Sie bekam damit die Möglichkeit, für drei Jahre nach Amerika zu gehen. In die legendäre FB I-Academy in Quantico, Virginia. Und das lag verdammt weit weg von Aurich. Verdammt weit weg von Axel.
Und er freute sich.
«Du wirst jetzt Profilerin, Wencke. Wenn wir dann das nächste Mal in Ostfriesland einen Mord haben, rufe ich dich an, sage dir Tatzeit, Tatort, Opfer und Methode, und du antwortest wie aus der Pistole geschossen: Der Täter ist Mitte dreißig, hat Abitur gemacht, das Studium abgebrochen, isst gern Sauerkraut mit Eisbein, hat Angst vor Spinnen, hört gern Rockmusik aus den Siebzigern, bohrt ständig in der Nase … Und Britzke und ich ziehen dann los und picken den Schurken heraus, ohne uns auch nur einmal die Finger schmutzig machen zu müssen.» Axel lachte über diese Vorstellung.
Wencke lachte nicht. «Du guckst zu viele schlechte Serien.»
«Dann würdest du ja eine Kollegin von Dr. Tillmann Erb werden! Der hat doch auch dort die Schulbank gedrückt. Oder nicht?»
«Ich mag keine Psychologen. Die sind alle komisch.»
«Du bist doch auch komisch, Wencke, dann passt das doch.»
Sie wollte seine Witze nicht mehr hören.
37.
Centaury
(Tausendgüldenkraut)
Botanischer Name: CENTAURIUM ERYTHRAEA (UMBELLATUM)
Blüte für Menschen, die sich oft herumkommandieren und ausnutzen lassen
Nein, Kerstin Spangemann war alles andere als ein intuitiver Typ, nicht mit einem sechsten Sinn ausgestattet, wirklich keine zweite Wencke Tydmers. Und doch hatte sie schon den ganzen Morgen ein ungutes Gefühl im Magen. Entweder war das eine Gastritis oder eine dunkle Vorahnung. Beides war möglich, denn dass Axel sich seit gestern irgendwie komisch benahm, am Telefon distanziert mit ihr sprach und es nicht für nötig hielt, sie über die verpasste Fähre zu informieren, diese Tatsache war ihr wirklich auf den Magen geschlagen.
Etwas lag in der Luft. Kerstin hatte so eine Ahnung, dass am Abend alles anders sein würde, als es am Morgen gewesen war. Beinahe wie vor einer großen Fahrt, wenn man sich im grauen Alltag nicht vorstellen kann, in wenigen Stunden unter Palmen zu liegen, ja, mit Reisefieber war Kerstins Gefühl am ehesten zu vergleichen. Nur ohne Vorfreude.
Zum Glück hatte sie Ricarda in dieser Nacht bei der Mutter schlafen lassen. Denn in unmenschlicher Frühe war heute Morgen ein Anruf gekommen. Riemer hatte sie nach Norden bestellt, in eine widerliche Wohnung voller Dreck und Elend. Acht Stunden hatten sie für die Spurensicherung gebraucht, und zwar nur für ein winziges Zimmer, hatten alles abgeklebt auf der Suche nach Stofffasern und überall mit Rußpulver gearbeitet, falls sich ein frischer Fingerabdruckfand, der nicht zum Verdächtigen gehörte. Sie hatten Bilder von kleinen Jungen gefunden, die noch weit ekelhafter waren als die Essensreste in der Spüle und die schmutzige Bekleidung querbeet. Es war ein harter Job gewesen, und Kerstin hätte eine Mittagspause nötig gebraucht, doch mehr als ein unbequemes Nickerchen im Tatortwagen auf der Rückfahrt war nicht drin. Und die ganze Aufregung hielt sie sowieso gegen ihre Erschöpfung gnadenlos wach.
Nun saß sie wieder in Aurich, im Sitzungssaal, gemeinsam mit den anderen Kollegen. Das erste Verhör von Rüdiger Wesselmann stand auf dem Plan. Es war Kerstins Aufgabe, der Vernehmung beizuwohnen, um eventuelle Widersprüche oder Übereinstimmungen zu den ihr bekannten Indizien
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