Die Blütenfrau
wirklich nicht gern gesessen. Irgendwie fand sie es erleichternd, dass dieser Kinderschänder so furchtbar aussah, sicher wäre kein Kind freiwillig in seine Nähe gekommen …
Kerstin stutzte über ihre eigenen Gedanken. Komisch, alles hatte doch danach ausgesehen, als ob Allegra Sendhorst ihrem Peiniger nichts ahnend ins Gebüsch gefolgt war, wahrscheinlich wegen der Katzen. Aber nie und nimmer hätte sie sich vertrauensselig an diesen Mann gehalten, selbst wenn er ein ganzes Dutzend niedlicher Tiere bei sich gehabt hätte.
Irgendetwas stimmte da nicht, denn die Beweislage war eindeutig. Die Spuren, die sie selbst gesichert hatte, machten Rüdiger Wesselmann klar zum Täter. Daran gab es nichts zu deuteln. Es sei denn, ihr Verdacht gegen Erb …
Die Schiebetür ging zur Seite, und Wesselmann stieg ein. Die Wachmänner an seiner Seite waren mit Handschellen an ihn gekettet. Man sah ihnen an, dass sie sich ekelten.
«Moin», sagte Wesselmann schüchtern. Niemand reagierte.
Er war es nicht, dachte Kerstin. Vor ihren Augen erschien die tote Allegra am Seeufer. Das blasse, einbalsamierte Kind, so blutleer und doch äußerlich unverletzt. Wie eine Porzellanpuppe. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann sein Opfer so hinterlassen würde. Nicht, nachdem sie das Chaos in seiner Wohnung, in seinem Leben gesehen hatte. Wesselmann hätte auch als Mörder Verwüstung hinterlassen … Hatte es also irgendjemand darauf angelegt, diesen Mann hier zum Mörder zu machen? Nein, nicht irgendjemand, dachte Kerstin, eigentlich war ihr Verdacht doch schon konkret genug, seit sie eben dieses Gespräch im Labor belauscht hatte. Um seinem guten Ruf nicht zu schaden, hatte Erb einen Unschuldigen verdächtig gemacht. Es klang gleichzeitig plausibel und irreal.
Sie musste mit einem der Ermittler sprechen.
Die Fahrt zur Vernehmung würde allerhöchstens vier Minuten dauern, normalerweise gingen die Verdächtigen diesen Weg zu Fuß, doch bei Rüdiger Wesselmann wäre das zu riskant. Schnelligkeit war gefragt, damit man ihn bei seiner Ankunft weitestgehend abgeschirmt ins Gebäude bekam. Das hieß, Kerstin würde wahrscheinlich nicht eine Sekunde bleiben, in der sie sich mit einem der Kommissare austauschen könnte. Dennoch war es wichtig, ihre Beobachtung und den daraus resultierenden Verdacht mitzuteilen. Es war sogar schrecklich wichtig. Das Magendrücken wurde heftiger. Telefonieren konnte sie in Anwesenheit des Verdächtigen allerdings nicht. Sie holte ihr Handy raus und begann, eine SMS zu tippen. Es gab nur eine Person bei der PolizeiAurich, der sie ihre Nachricht zukommen lassen wollte. Jemand, von dem sie wusste, die wenigen Silben, die in eine SMS passten, würden ausreichen, und die Sache war klar. Zeit blieb ohnehin nur für eine Nachricht. Kerstins Finger waren geübt, und zum Glück zeigte die Ampel an der letzten Kreuzung zum Fischteichweg ein stures Rot. Nur kurz schaute sie hinaus, erblickte die Menge auf dem Bürgersteig, entzifferte die Plakate, erkannte den Hass in den Gesichtern. Drei oder vier Fernsehkameras thronten auf Podesten. Fotografen mit gigantischen Teleobjektiven an ihren Apparaten gingen in Stellung. Die Leute tobten, hatten die Fäuste erhoben und riefen etwas, was man im Wageninnern jedoch nicht verstehen konnte. Doch Gott sei Dank hatte der Mob sein Gesicht dem nachfolgenden Wagen zugewandt. Das Ablenkungsmanöver funktionierte. Die Menschenmenge bestürmte den unechten Gefangenentransporter. Der Fahrer in ihrem Wagen atmete erleichtert auf. Kerstin schaute nach unten, um weiterzutippen. Und deswegen bemerkte sie auch den stillen, regungslosen Mann am Rande des Geschehens nicht. Er fiel ihr nicht auf, obwohl er der Einzige war, der sich nicht hatte täuschen lassen. Mit versteinerter Miene nahm er den richtigen Wagen ins Visier. Und folgte ihm mit langsamen Schritten.
Als der Bulli schließlich in den Hinterhof der Polizeibehörde einbog und Kerstin im Augenwinkel Axel und Wencke auf den Eingangsstufen wahrnahm, hatte sie gerade auf «Senden» gedrückt.
38.
Pine
(schottische Kiefer)
Botanischer Name: PINUS SYLVESTRIS
Die Blüte gegen Schuldgefühle
Rund um das Polizeigebäude herrschte ein irrsinniges Chaos. Da draußen gibt es Ärger und hier drinnen jede Menge Arbeit, dachte Wencke. Sie wusste, der oberste Chef hatte ein Täuschungsmanöver für die Leute auf der Straße angeordnet, und gerade traf der unauffällige Bulli ein, in dem der mutmaßliche Mörder von Allegra
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