Die Blütenfrau
noch nicht einmal über den eigenen Tellerrand hinausblicken kann. Und dieser Mensch trifft dann einen Larch-Typen, dessen Vielseitigkeit aus lauter Selbstzweifel versteckt wird … Ich denke, Sie beide würden voneinander profitieren, wenn Sie es nur zulassen könnten. Aber da ist so viel zwischen Ihnen …»
«Ach Quatsch, wir sind nur Kollegen.»
«Ich habe jedenfalls Spannungen ausmachen können, Konkurrenz, Misstrauen und – wenn ich mich nicht total getäuscht habe – auch Erotik.»
Nun zog Wencke lieber die Notbremse. War sie nicht hier, um etwas über Gernot Huckler in Erfahrung zu bringen? Stattdessen hörte sie etwas von Axel und sich.
«Sagen Sie, Frau Vanmeer …» Wencke wandte sich nun ganz offen und ungeniert an ihr Gegenüber, schließlich hatte sich in den letzten Minuten schon eine gewisse Vertrautheit ergeben. «Ich habe mich schon immer gefragt, was das für Frauen sind, die Inhaftierte heiraten.»
Sofort rückte ihre Gesprächspartnerin ein Stück ab. «Was meinen Sie damit?»
«Sie sind doch eine Frau, die mitten im Leben steht, die eine halb erwachsene Tochter und einen guten Job hat. Warum nimmt jemand wie Sie ausgerechnet einen Sexualstraftäter zum Mann?»
«Schon mal was von Liebe gehört?», gab Esther Vanmeer schnippisch zurück.
«Haben Sie denn eine normale Liebesbeziehung?» Wencke wartete vergeblich auf eine Antwort, also formulierte sieum: «Was macht das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann aus?»
«Sie denken bestimmt, ich habe ein Helfersyndrom.»
«Und? Habe ich recht?»
«Ja.» Esther Vanmeer zog ihre Füße an den Körper und schlang die Arme um die Beine. «Anfangs war das auch die Basis unserer Beziehung, das muss ich zugeben. Doch es hat sich alles verändert, seit er aus dem Gefängnis ist.»
«Würden Sie sagen, Sie führen eine gut funktionierende Ehe?»
«Nein, dann müsste ich lügen. Wir verstehen uns gut, wir lachen zusammen. Gernot geht auch wunderbar mit meiner Tochter Griet um, und die ist gerade alles andere als einfach. Pubertät, wissen Sie.» Sie stoppte an dieser Stelle.
«Aber?», hakte Wencke nach.
«Aber wir haben, also, nun …, wir haben zum Beispiel keinen ehelichen Verkehr. Gernot nimmt diese Tabletten, wissen Sie. Escitalopram, falls Ihnen das was sagt.»
«Zur Verminderung der Libido?»
«Ja, und gegen seine Depressionen.»
«Ihr Mann ist depressiv?»
«Wären Sie das nicht, wenn Sie Ihr ganzes Leben lang Ihre sexuellen Neigungen verleugnen müssten? Die meisten Menschen denken doch, Pädophile sind automatisch Monster, Kinderschänder ohne Gewissen. Aber das stimmt nicht. Niemand sucht sich seine sexuelle Orientierung aus. Wenn man nun mal so gestrickt ist, dann lässt sich nicht mehr viel daran ändern. Es ist wie bei Homosexualität.»
«Sie können doch nicht ernsthaft Homosexuelle mit Pädophilen in einen Topf schmeißen? Immerhin besteht eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft auf Freiwilligkeit zweier ebenbürtiger Personen. Da wird niemand zum Opfer gemacht.»
«Sie missverstehen mich. Meine Güte, ob jemand schwul oder lesbisch ist, danach kräht ja heute zum Glück kein Hahn mehr. Aber wenn jemand öffentlich sagen würde: Ich bin pädophil, dann könnte er sich genauso gut vom Hochhaus stürzen. Er wäre gesellschaftlich erledigt, selbst wenn er niemals einem Kind zu nahe gekommen ist.»
Da musste Wencke ihr ohne Bedenken recht geben. «Zum Schutz der Kinder ist es auch sicher besser so …»
«Quatsch!», fuhr Esther Vanmeer ihr ins Wort. «Diese Menschen sind nun mal so veranlagt, egal, ob sie es öffentlich machen oder nicht. Aber die Gesellschaft erschwert es ihnen, damit umzugehen.»
«Was heißt: damit umgehen? Wollen Sie die Kinderehe wieder salonfähig machen?»
«Nein. Aber Pädophile müssen lernen, mit ihrer Veranlagung zu leben, ohne ihr je nachzugehen. Sie träumen von einer glücklichen Liebesbeziehung zu einem Kind und wissen genau, dass es immer nur bei einer Phantasie bleiben darf. Aber sie können lernen, damit umzugehen.»
«Das wusste ich nicht», musste Wencke zugeben.
«Die meisten wissen das nicht. Und wenn diese Pädophilen doch einmal schwach geworden sind, so wie Gernot damals, leiden sie unter entsetzlichen Schuldgefühlen und halten sich für minderwertig.»
Wencke schüttelte den Kopf. «Tut mir leid, wenn ich das sage, aber Ihre Sätze klingen für mich zu sehr nach Mitleidsgetue. Sie vergessen, wer die eigentlichen Opfer sind! Ich habe dieses tote Mädchen
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