Die Blütenfrau
…»
«Hanno Thedinga?», unterbrach Esther Vanmeer.
«Kennen Sie ihn?»
«Warum wollen Sie ihn erreichen?» Die Gegenfrage kam wie aus der Pistole geschossen.
«Es ist nichts Wichtiges. Wir gehen davon aus, dass er der Letzte war, der Allegra Sendhorst lebend gesehen hat. Das Mädchen war auf dem Hof seiner Eltern und hat dort mit den jungen Katzen gespielt.»
Die Blütenfrau war blass geworden. «Er ist ein Patient von mir.»
«Hanno Thedinga? Warum kommt er zu Ihnen?»
«Auch wenn ich keine Ärztin bin, ich habe ebenfalls so etwas wie eine Schweigepflicht.» Man sah Esther Vanmeer an, dass ihr die Einhaltung dieser Verpflichtung jedoch schwerfiel.
«Können Sie uns vielleicht verraten, was Sie ihm verordnet haben?»
«Nein, das kann ich auch nicht.» Sie atmete tief durch. «Aber warten Sie einen Moment …»
Sie verschwand im Haus.
«Was hat dieser Hanno denn gesagt?», fragte Wencke.
Axel, der ebenfalls verwundert war über die auffällige Reaktion der Frau, brauchte ein paar Sekunden für die Antwort.«Äh … Er hat die Aussage seines Vaters bestätigt: Allegra Sendhorst ist kurz nach sechs mit ihrem Fahrrad vom Hof gefahren.»
Als Esther Vanmeer wieder zu ihnen in den Garten trat, reichte sie Wencke ein dickes, grünes Buch. «Seite 72», sagte sie nur. «Sie können es sich ausleihen, bis der Fall beendet ist und Sie endlich wissen, dass mein Mann nicht das Ungeheuer ist, für das die Menschen ihn halten.»
Wencke und Axel verabschiedeten sich knapp, und schon während sie zum Wagen liefen, schlug Wencke die angegebene Seite auf.
«Cherry-Plum, Kirschpflaume. Genau dieselbe Blüte, mit der sie ihren Mann zu therapieren versucht.»
Axel schüttelte den Kopf. «So ein Schwachsinn.»
«Soll ich vorlesen?»
17.
Ich fühle mich verfolgt.
Könnte ich doch wenigstens sagen: Was ich getan habe, habe ich nicht gewollt. Aber das wäre gelogen. Ich habe es gewollt. Mit jeder Faser meines verdammten Körpers.
Wie sie mich angesehen hat. Wie sie gebettelt hat, nein, ich will das nicht, es tut weh, es ist ekelhaft … Aber ich war stärker. Nicht nur stärker als sie, sondern auch stärker als der andere Teil von mir, der mitleidige Teil, der so gern aufgehört hätte. Aber ich habe über diesen Schwächling triumphiert und ihm gezeigt, wer nun der Stärkere ist. Endlich besitze ich die Macht und die Kraft und die Gewalt, um diesem Druck nachzugeben.
Dieser andere Teil sagt, es ist schwach, wenn ich das tue. Dem Trieb zu widerstehen wäre tatsächlich stark. Aber dieser Teil von mir ist ein Jammerlappen, ein Häufchen Elend. Was weiß er schon über diese Dinge?
Doch nun wird es eng. Sie kommen immer näher. Sie wollen mir das Handwerk legen.
Sollte die Erfüllung meiner Sehnsüchte nur so kurz gedauert haben? Ich warte immerhin schon mein ganzes Leben darauf. Ich habe es mir verdient. Und wer mir in die Quere kommt, den werde ich vernichten.
Das macht mir nichts mehr aus. Ich bin jetzt so stark wie nie zuvor.
Wehe dem, der mich aufhalten will.
Ich habe keine Angst mehr.
18.
Sclerantus
(Einjähriger Knäuel)
Botanischer Name: SCLERANTHUS ANNUUS
Die Blüte für Menschen, die sprunghaft und unentschlossen sind
Dr. Erb gehörte nicht zu der Sorte Mann, mit der Wencke gern auf einer einsamen Insel gestrandet wäre. Was sie genau an ihm störte, ließ sich nur schwer ausmachen. Rein optisch war er durchaus akzeptabel, nicht zu dick und relativ groß, volles Haar, wenngleich auch schon recht grau. Sein Alter schätzte sie auf Mitte fünfzig. Wenn er las, so wie jetzt im Protokoll der Spurensicherung, dann brauchte er eine Sehhilfe in Form einer silbernen, feinen Brille.
Im Laufe ihres Berufs- und Privatlebens hatte Wencke zwei Sorten Psychologen kennengelernt. Den, der so verhuscht und armselig daherkam, dass man einen Rollentausch in Erwägung zog und ihn gern selbst auf die Couch gelegt hätte. Oder den geschäftsmäßig Unterkühlten, der besser in die Chefetage eines Wirtschaftsunternehmens als in das Seelenleben eines anderen Menschen vorstoßen sollte. Dr. Tillmann Erb gehörte zu keiner der beiden Gruppen. Er wirkte selbstbewusst, aber nicht selbstverliebt. Er sprach fachmännisch, aber nicht fachchinesisch. Sein Auftreten war es also nicht, was Wencke abstieß. Vielleicht war es einfach nur sein Gesicht. Zu wenig Mimik. Kaum Falten oder Grübchen. Das wirkte unheimlich. So, als hätte das, was dieser Mann bislang erlebt hatte, keinerlei Spuren bei ihm
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