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Die Blütenfrau

Die Blütenfrau

Titel: Die Blütenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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gefallen lassen würde. Okay, er sagte ihr, dass sie die Füße vom Wohnzimmertisch nehmen musste oder beim Essen nicht den Kopf auf die Hand stützen sollte. Doch stets war er auf Distanz geblieben, ja, er hatte sogar so viel Abstand zu Griet gehalten, dass ihr Verhältnis auch sechs Monate nach seinem Einzug nicht viel vertrauter war als das Verhältnis, welches sie beispielsweise zu ihrem Lateinlehrer hatte.
    Aber wessen Gefangene war sie dann?
    War sie etwa in dieselben Hände geraten, in denen Allegra Sendhorst vor zwei Tagen die letzten Minuten ihres Lebens verbracht hatte? War sie einem Kindermörder ausgeliefert? Nein, das konnte nicht sein. Jemand, der auf Alli scharf war, würde Griet keines Blickes würdigen. Alli war ein braves Mädchen mit naiver Ausstrahlung gewesen. Aber Griet signalisierte allein schon mit ihren Klamotten, dass sie alles Kindliche und Unschuldige bereits hinter sich gelassen hatte. Das war zumindest bisher ihre Absicht gewesen.
    Aber jetzt fühlte sie sich klein und schutzlos. Wie lange war sie schon hier? Und was würde mit ihr passieren? Wann würde ihrer Mutter auffallen, dass sie nicht nur zu spät,sondern gar nicht von der Schule nach Hause kam? Esther hatte zurzeit weiß Gott selbst genug Probleme an den Hacken.
    Sollte sie heulen? Oder losschreien? Vielleicht war das hier alles ein riesengroßes Missverständnis, und eigentlich wollte dieser Kerl jemand anderen entführen. Eine Verwechslung. Gleich würde er kommen, sich entschuldigen und sie frei lassen.
    Aber Griet war klar, das würde nicht passieren. Sie war kein Mensch, der so leicht verwechselt wurde.
    Und wenn es doch Samael gewesen war? Wenn er einfach mehr Spaß daran hatte, sie ohne ihr Einverständnis zu quälen?
    Samael war anders als alle anderen. Er hatte nichts gemeinsam mit diesen gesichtslosen Mitschülern, die selbst nicht genau wussten, was sie wollten. Nicht nur, weil er älter war und meilenweit interessanter. Sondern weil er so viel kapierte von dem, was Griet bewegte. Wonach sie sich sehnte, was ihr wehtat und was sie fürchtete. Er war der Erste, der verstanden hatte, dass diese drei Empfindungen bei Griet ein- und dasselbe waren.
    «Du glaubst, du musst innerlich zerplatzen», hatte er bei einem der ersten Gespräche zu ihr gesagt. «Es ist so viel Gefühl in dir, so viel Gutes und Böses, und das kann nicht raus. Es sei denn, du machst ihm den Weg frei. Öffnest deinen Panzer, die Haut, den Körper, dann kann es entweichen. Dann erlöst du dich selbst.»
    Am alten Friedhof waren sie sich das erste Mal begegnet. Griet hatte sich die Fingernägel blutig gekaut, und er war dabei gewesen, mit einem Messer die Maserung an der Innenseite seiner Arme nachzuzeichnen. Ein komisches Treffen. Zehn Meter hatten sie auseinandergesessen und sich gegenseitig beobachtet. Sie hatten sich in die Augen geschautund gewusst: Die Welt ist verrückt, und wir beide sind die Einzigen, die es erkannt haben.
    Samael war schließlich zu ihr gekommen und hatte sein Messer, an dem noch ein dünner Film von seinem Blut klebte, über ihre Fingerkuppen gleiten lassen. Der Schmerz hatte gutgetan.
    Es war kein Zufall, dass sie sich von dem Tag an immer wieder dort trafen. Und es war Griet egal gewesen, dass er zwölf Jahre älter war als sie. Total unwichtig. Zwischen ihnen gab es keine Zwänge, keine Verbote. Er hatte manchmal Alkohol getrunken oder gekifft, da hatte sie aber nie mitgemacht. Sie brauchte keine Betäubung, sie wollte lieber richtig denken und fühlen können, besonders wenn es wehtat. Er hatte sie nicht ein einziges Mal dazu aufgefordert. Samael respektierte ihren Willen, wie es noch nie ein Erwachsener getan hatte. Deswegen fieberte sie den Begegnungen entgegen. Aber leider sahen sie sich nicht allzu oft, denn sie konnte sich nicht immer von zu Hause fortschleichen. Bis er auf die Idee kam, sie zu besuchen. Nicht durch das Fenster, nicht durch die Hintertür, sondern ganz offiziell durch den Vordereingang. Als Patient ihrer Mutter.
    Es war schon fast komisch gewesen, dass er, der so etwas wie der heimliche Geliebte für Griet geworden war, nun bei ihrer Mutter ein und aus ging und von Problemen erzählte, die denen von Griet gar nicht so unähnlich waren. Anschließend, wenn er sich durch die Vordertür verabschiedet und durch die Hintertür wieder hineingeschlichen hatte, wiederholte er jedes Wort aus der Sitzung. «Deine Mutter sagt, meine Eltern hätten mich zu wenig angenommen. Ich hätte keine Liebe, keinen

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