Die Blütenfrau
einen Moment lang geglaubt habe, dass Ihr Mann sich etwas Derartiges zuschulden hat kommen lassen.»
«Aber Gernot ist nicht da. Und ich habe keine Ahnung, wo er steckt …» Frau Vanmeer machte keinerlei Anstalten, sie hereinzubitten.
«Wir wissen das», sagte Kerstin und stellte sich und ihr Anliegen vor. «Sie sind nicht dazu verpflichtet, uns Auskunft über den Kleiderfundus Ihrer Familie zu geben. Aber Sie würden uns einen Gefallen damit tun und die Ermittlungen beschleunigen.»
«Olivgrüner Cord, sagten Sie?» Es war der Frau anzusehen, dass das Nachdenken derzeit für sie eine anstrengende Angelegenheit war. «Ich glaube nicht, dass er so etwas anzieht. Aber ob ich das schwören kann … Ich würde Sie ja reinbitten, aber es ist im Augenblick wirklich sehr ungünstig. Muss das jetzt gleich sein?»
«Sie wollen doch auch, dass Ihr Mann nicht weiter verdächtigt wird.»
«Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich will. Meine Tochter ist nicht von der Schule nach Hause gekommen, und ich zerbreche mir den Kopf darüber, was mit ihr passiert sein könnte.»
«Griet ist verschwunden?», platzte Erb etwas zu schnell und zu laut für Kerstins Geschmack heraus.
Die Frau zuckte nur schwach mit den Schultern. «Ich nehme an, sie ist abgehauen und treibt sich irgendwo herum. Für ein Mädchen in ihrem Alter ist es viel zu viel, was in unserem Haus gerade passiert.»
«Und wenn ihr etwas zugestoßen ist?», malte Erb den Teufel an die Wand. «Wie alt ist Griet jetzt? Vierzehn? Mmh, genau das Alter …»
Wie konnte ein Psychologe nur so unsensibel sein? Kerstin war es unbegreiflich.
«Seit wann vermissen Sie sie denn?», machte Erb weiter.
«Um vier Uhr hatte Griet schulfrei.»
«Mein Gott, schon mehr als drei Stunden. Ich kann Ihre Sorge verstehen, Frau Vanmeer. Warum haben Sie uns nicht viel eher Bescheid gegeben?» Er wandte sich an Kerstin. «Wir sollten sofort Nachforschungen anstellen, Frau Spangemann, finden Sie nicht?»
Wir?, dachte Kerstin. Dennoch griff sie zum Handy und rief die Dienststelle an. Sie ließ sich zu Meint Britzke durchstellen und sagte: «Ich glaube, wir haben hier schon das dritte vermisste Mädchen.»
Erb horchte auf. «Das dritte?»
«Äh, das zweite, meinte ich.» Es war Zeit, dass Kerstin Feierabend machte. Allerhöchste Zeit.
25.
Mustard (Wilder Senf)
Botanischer Name: SINAPIS ARVENIS
Die Blüte gegen Schwermut und Verzweiflung
Griet befand sich in einem dunklen Raum. Dem Geruch nach war es ein Keller, in dem kühle Feuchtigkeit in den Mauern saß. Bis sich die Augen einigermaßen an die Dunkelheit ringsherum gewöhnt hatten, hatte sie zuerst die hinter ihr liegende Wand abgetastet. Raue Steine, verputzt und schlecht gestrichen – die Farbe war unter ihren Fingern in Schichten abgeblättert. Das war nun schon eine Weile her, eine halbe Stunde, vielleicht auch länger. Jegliches Zeitgefühl war ihr völlig abhanden gekommen. Noch immer konnte sie nicht viel erkennen im Raum: leere Regale, und in der Ecke die Schemen eines Fahrrads. Griet saß auf dem Boden an die Wand gelehnt, unter ihr eine Teppichfliese, die den Hintern notdürftig warm hielt. Seit sie aus ihrer Betäubung erwacht war, hatte sie es noch nicht auf die Beine geschafft. Sie war einfach noch zu schwach. Der Schreck und vermutlich auch dieses Zeug, welches man sie hatte einatmen lassen, lähmten jede Bewegung.
Hatte sie Angst? Oder war ihr nur kalt? Jedenfalls zitterte sie, und ihre Oberarme fühlten sich pelzig an unter dem Stoff ihres Umhangs.
Über sich hörte sie Schritte. Langsame und ruhige Schritte, denen nicht anzumerken war, ob es sich um einen Mann, eine Frau oder ein Monster handelte.
Griet glaubte nicht, dass es Samael war. Obwohl sie kein Gesicht und keine Stimme erkannt hatte, verriet ihr irgendetwas,dass er mit dieser Entführung nichts zu tun hatte. Warum sollte er das tun? Er wusste doch, sie würde auch freiwillig mit ihm gehen. Diese Sache hier hatte einen anderen Hintergrund.
Ob Gernot, ihr Stiefvater, dahintersteckte? Der Mann ihrer Mutter hatte jedoch nicht ein einziges Mal Interesse an ihr gezeigt, welches über ein normales Eltern-Kind-Verhältnis hinausgegangen wäre. Bei der ständigen Beobachtung durch die Beratungsstelle wäre das ja ohnehin kaum möglich, immerhin musste Griet alle zwei Wochen über ihr Familienleben berichten, und das wusste Gernot. Und ihm musste auch klar sein, sie war nicht der Typ, der sich irgendwelche komischen Sachen und Heimlichkeiten
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