Die Blütenfrau
endlich ungestört sind und unseren Träumen und Wünschen nachgehen können.»
«Wann wird das sein?»
«Du wirst es merken, wenn es so weit ist. Vielleicht wirst du Angst haben, dich fürchten und an mir zweifeln. Aber ich verspreche dir, ich werde dich befreien von deinen Schmerzen und diesem höllischen Druck, der sich in dir ausbreitet.» Dann hatte er sie das erste Mal geküsst. Auf den Mund. Sein Atem war zu ihrem geworden. Und schon da hatte sie geahnt, was er meinte, wenn er von einer anderen Welt sprach, in die er sie bringen würde.
Aber nun saß sie in diesem dunklen und feuchten Keller. Das konnte, das durfte nicht sein. Samael hätte etwas anderes ausgesucht, um ungestört zu sein.
Griet hörte über sich jetzt keine Schritte mehr. Und auch wenn das Trappeln beunruhigend gewesen war, die plötzliche Stille war noch viel schlimmer.
«Hallo?», fragte Griet viel zu leise. Das Betäubungsmittel war ihr auf die Stimmbänder geschlagen. Mehr als ein heiseres Flüstern brachte sie nicht zustande. Griet versuchte aufzustehen, doch ihre Beine fühlten sich an wie Babybrei. Aber die Arme kriegten ein Rohr zu packen, ein Heizungsrohr wahrscheinlich, stabil genug, um sich hochzuziehen.
Vielleicht finde ich eine Tür, die sich öffnen lässt, dachte Griet. Konnte doch sein, dass sie überhaupt keine Gefangene war, sondern einfach die Klinke nach unten drücken musste, um die Tür aufzustoßen und die Treppe nach oben zu gehen. In die Freiheit. Ins Licht.
Endlich kam sie auf die Beine. Ihr Kreislauf spielte verrückt, das ganze Blut schien in ihrem Unterleib zu lagern, der Kopf fühlte sich entsetzlich leer an, schmerzte höllisch und war nicht wirklich einsatzbereit. Der erste freie Schritt in den Raum hinein war wenig vielversprechend, sie taumelte zurück und bekam nur knapp das Regal zu fassen. Dann musste sie eben an der Wand entlangschleichen. Stück für Stück.
Nach fünf lahmen Schritten erreichte sie endlich die Tür. Sie war aus Metall, mit einem abgerundeten Plastikgriff. Verschlossen. Aber Griet durfte und wollte sich dadurch nicht entmutigen lassen. Irgendwann musste sie ja auch mal mit Essen und Trinken versorgt werden. Ihr Mund war pelzig, die Zunge geschwollen. Sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser. Wenn ihr Entführer vielleicht gleich etwas bringen würde, dann könnte sie direkt hier warten, und sobald sich der Schlüssel im Loch gedreht hatte, würde sie lospreschen. Würde ihn einfach überrumpeln.
Aber vielleicht waren es auch mehrere? Griet versuchte sich daran zu erinnern, wie sie hier heruntergekommen war. Man musste sie getragen haben. Konnte ein einzelner Mensch das überhaupt schaffen, ohne dabei bemerkt zu werden? Man hatte sie am helllichten Tag mitten in Norden betäubt und in einen Wagen gesteckt. Dahinter konnte unmöglich nur eine Person stecken, oder?
Oben waren wieder Schritte zu hören. Ganz lahm, schlurfend. Es hörte sich nicht danach an, als bereite gerade jemand ihr Abendessen vor. Man hatte also nicht vor, sie hiermit dem Nötigsten zu versorgen. Oder war sie einfach vergessen worden? Zugegeben, ihre Fluchtpläne waren ohnehin lächerlich. Niemals hätte sie in ihrem Zustand schnell und effektiv handeln können. Wahrscheinlich wäre sie der Länge nach hingeknallt bei ihrem Versuch, in die Freiheit zu rennen.
Griet ließ sich wieder auf den Boden sinken. Ihr war so kalt. Der Durst schmerzte im Hals. Sie war in einer beschissenen Lage. Aber Angst wollte sie nicht haben. Nein. Nur das nicht. Keine Angst! Was würde Samael denken, wenn er sie nun so sehen könnte? Er würde sie verachten.
Also suchte sie den Mut in sich. Irgendwo musste er doch zu finden sein.
Nein. Sie war leer.
«Mama!», heulte sie plötzlich. Sie hätte so gern etwas anderes gerufen in ihrer Verzweiflung, aber ihre zitternden Lippen formten immer wieder denselben, fast lautlosen Schrei. «Mama, hol mich hier raus!»
26.
Chicory
(Wegwarte)
Botanischer Name: CICHORIUM INTYBUS
Blüte für Menschen, die durch ihre Fürsorglichkeit andere an sich binden wollen
Wenn die Insel Spiekeroog eine Auszeichnung verleihen würde für treue Gäste, eine silberne Anstecknadel oder eine goldgerahmte Urkunde, Else Martineck hätte sie längst. Seit mehr als dreißig Jahren fuhr sie im Juni oder Juli auf ihre Lieblingsinsel. Früher gemeinsam mit ihrem Mann Gerhard. Seit ein paar Jahren allein. Sie wohnte immer in derselben Pension. Immer im selben Zimmer. Es brachte etwas Abwechslung in ihr
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