Die Blütenfrau
Leben, welches normalerweise im Teutoburger Wald stattfand.
Jeder Urlaubstag hatte nach einem speziellen Muster abzulaufen, damit er auch richtig erholsam war. Morgens frühstückte sie um halb acht, da legte sie sich immer heimlich ein Brötchen zur Seite, ein normales ohne Mohn oder Sonnenblumenkerne. Am Vormittag ging sie im Hallenbad schwimmen, das Meer war ihr schon immer zu wild gewesen. Danach folgte eine Salzwasserinhalation im Kurmittelhaus. Als kleines Mädchen hatte Else Martineck ein Lungenleiden gehabt, und man konnte ja nie wissen, ob so ein Gebrechen nicht eines Tages wieder aus der Versenkung auftauchte. Anschließend gönnte sie sich einen Ostfriesentee mit einem Stück Torte, inzwischen leider die diabetikergeeignete Variante – da musste sie aufpassen wie ein Luchs, hatte die Hausärztin zu Hause in Bad Meinberg gemahnt.Das Mittagsstündchen verbrachte sie im Bett, so viel Sonne und frische Luft machten müde.
Aber das, was Else Martineck am meisten liebte hier auf der Insel, sozusagen ihr Höhepunkt eines vollendeten Urlaubstages, ausgerechnet das war seit ein paar Jahren strengstens verboten: Enten füttern im Kurpark. Normalerweise war Else die Gesetzestreue in Person, aber sie sah einfach nicht ein, warum sie sich auf ihre späten Jahre noch den allergrößten Spaß verderben lassen sollte. Viel blieb einer Witwe doch nicht vom Leben. Und so ein Brötchen, also wirklich, so schlimm konnte das doch nicht sein.
Wie eine Geheimagentin fühlte sie sich, eine Mata Hari auf Spiekeroog, und sie schaute sich auch heute einige Male um, bevor sie zur Tat schritt. Der Kurpark hatte tausend versteckte Winkel, Nischen und Gebüsche, wo sich die Gesetzeshüter verstecken konnten, um dann wie aus dem Nichts neben ihr aufzutauchen und sie auf frischer Tat zu ertappen. Zweimal war das schon passiert, schrecklich unangenehm ist ihr das gewesen. «Wir denken uns solche Verbote doch nicht zum Spaß aus. Wenn hier jeder seine Frühstücksbrötchen an die Enten verfüttert, dann haben wir bald einen stinkenden Tümpel auf der Insel. Das wollen Sie doch auch nicht.»
Nein, das wollte Else Martineck nicht. Aber die Tiere waren doch so hungrig. Und sie hatten bereits Vertrauen zu ihr gefasst, kamen schon erwartungsvoll angewatschelt, wenn sie am frühen Abend durch den Kurpark spazierte. Zu dieser Zeit waren die meisten Gäste in den Restaurants der Insel verschwunden. Else Martineck ging dann bis zu ihrer Stelle, bis zum Holzplateau, welches einen guten Meter über das Wasser ragte, und machte mit den gespitzten Lippen ein quietschiges Geräusch, ihren eigenen, unverwechselbaren Lockruf. Im Juni waren ja auch die Küken schon da, die im Schlepptau der Entenmutter ganz eifrig nach den aufgeweichtenBrotkrumen pickten. Else machte sich dann Gedanken, ob sie wohl eine Rolle spielte bei den Generationen der Wasservögel, ob das braungesprenkelte Muttertier so etwas wie eine Erinnerung an sie hatte, an die ältere Dame, die schon im letzten Jahr und im Jahr davor für ein paar Leckerbissen gesorgt hatte. Es wäre schön, dachte Else, wenn die Enten nach mir Ausschau hielten und vielleicht zu Beginn des Sommers schon in freudiger Erwartung wären, wann der Inselurlaub der Else Martineck denn endlich beginnt.
Aber wo waren heute die Enten? Gestern noch hatte sie gleich zwei Vogelfamilien auf der dunkelgrünen Teichoberfläche beobachtet, zudem noch zwei Erpel, die Junggesellen zu sein schienen. Und nun, an diesem Abend, dem vorletzten ihres Urlaubs, waren außer zwei lauten, gierigen Silbermöwen weit und breit keine Tiere zu sehen. Nein, Möwen fütterte Else Martineck nicht. Die waren ihr zu gierig, machten sich manchmal, wenn die Fütterung vorüber war, sogar am Mülleimer zu schaffen, rissen die leere Butterbrottüte hervor, zerfetzten sie auf dem Steg und kämpften bitterböse um die letzten winzigen Krumen. Zum Dank besudelten sie ihr beim Abflug noch die gute Sympatexjacke – und die Flecken waren sehr hartnäckig.
Hatten die Möwen sich hier etwa so breit gemacht, weil sich Elses regelmäßige Fütterung bis zu ihnen durchgesprochen hatte? Neben den weißen Seevögeln konnten sich die putzigen Enten einfach nicht durchsetzen. Wahrscheinlich hatten sie deshalb das Feld geräumt.
Oder lag es an der Wasserqualität? Else wusste sehr wohl, die Hinterlassenschaften der gefütterten Enten überdüngten einen kleinen Teich wie diesen, wenn man nicht aufpasste. Insbesondere bei gutem Wetter, und in den letzten Tagen
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