Die Blume von Surinam
schlich er zwei Tage später, in einer wolkenverhangenen Nacht, zum Boot, löste das Tau und stieß das Boot vom Anleger ab.
Wim stand fassungslos am Anleger. »Das Boot ist weg!«
Die Sonne war noch nicht über die Baumwipfel gestiegen, und auf dem Fluss lag noch ein dunstiger Schleier. Sie hatten am heutigen Tag nach Rozenburg fahren wollen. Thijs hatte gesagt, es würde flussabwärts nur drei Stunden bis zur Plantage dauern, aber nun war das Boot fort.
»Wahrscheinlich hat sich das Tau gelöst, mit dem es festgemacht war.« Thijs ging auf den Steg und sah sich um. »Anders kann ich mir das nicht erklären. Aber ohne das Boot haben wir wirklich ein Problem.«
»Kommen wir nicht irgendwie anders nach Rozenburg?« Wim hatte es nicht dorthin gedrängt, aber jetzt, da sie auf Watervreede festsaßen, wurde ihm etwas bange zumute.
»Tja.« Thijs kam vom Anleger zurück zum Ufer. »So wie ich das sehe, haben wir gar keine andere Wahl, als einen anderen Weg zu finden. Aber das wird kein Spaziergang.«
»Du meinst, wir gehen zu Fuß? « Wim fand das, angesichts des undurchdringlichen Regenwaldes um die Plantage herum, keine erbauliche Idee.
Thijs zuckte mit den Schultern. »Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir werden eine große Teilstrecke durch den Regenwald zurücklegen müssen. Früher gab es zwar mal einen Sklavenpfad, aber ich denke, der ist nicht mehr da. Wenn wir gut durchkommen, müssten wir noch vor Einbruch der Dunkelheit die Zuckerrohrfelder von Rozenburg erreichen.«
»So spät? Aber der Weg über den Fluss ist doch recht kurz?«
Thijs lachte. »Ja, Wim, auf dem Fluss verleiht die Strömung dem Boot ja auch Geschwindigkeit. Über Land sind es ein paarMeilen.« Wim sah, dass sein Freund ihm einen Blick zuwarf, der vermutlich aufmunternd wirken sollte. Thijs’ Stimme klang zumindest fröhlich. »Also: Wir packen die Sachen um, nehmen nur das Nötigste mit – und dann los! Es ist noch früh am Morgen, wenn wir uns eilen, können wir Rozenburg noch im Hellen erreichen.«
Wim seufzte, eine andere Wahl hatten sie wohl nicht.
Kapitel 11
J ulie fiel ein Stein vom Herzen, als Erika am nächsten Tag die Augen öffnete. Der fiebrige Glanz war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre zuvor aschfahle Haut hatte sogar schon einen leicht rosafarbigen Hauch.
Julie hatte in der Nacht kaum ein Auge zugetan und war mehrmals an Erikas Krankenlager gegangen, hatte ihrer Freundin von Anigas Tee eingeflößt und ihr am Morgen den heilenden Umschlag abgenommen. Besorgt hatte sie wieder und wieder feststellen müssen, dass Erika sich noch immer in ohnmächtigem Schlaf befand. Am Mittag aber öffnete sie die Augen und sah Julie überrascht an.
»Juliette? Wo bin ich?«
»Erika!« Julies Stimme überschlug sich fast. »Du bist auf Rozenburg, alles wird gut, du hattest hohes Fieber und … Inika hat dich auf Anraten des Arztes hergebracht«, sagte sie so sanft wie möglich, um ihre Freundin nicht zu beunruhigen.
»Inika? Nach Rozenburg?« Erika schaute Julie verwirrt an.
»Ja, es ist alles in Ordnung, ich erkläre es dir, wenn es dir besser geht, aber erst einmal musst du zu Kräften kommen.« Julie streichelte sanft die Hand ihrer Freundin.
Erika schloss erschöpft die Augen und im selben Augenblick war sie auch schon wieder eingeschlafen. Julie betrachtete sie einen Moment voller Wehmut. Wie zerbrechlich sie aussah! Sie zupfte fürsorglich die dünne Bettdecke zurecht und schloss dann sorgsam den Gazevorhang über dem Bett.
Freudig lief sie zum Arbeiterdorf, um Inika die gute Nachrichtzu überbringen. Inika saß auf dem Boden der Hütte, als hätte sie auf Julie gewartet. Julie meinte, einen Hauch von Angst in Inikas Blick zu erkennen. Fürchtete sich das Mädchen gar vor ihr? Oder fürchtete es sich, weil es auf der Plantage war? Julie würde nicht zulassen, dass Inika hier etwas zustieß.
»Geht es dir gut?«, fragte sie sanft.
Inika nickte zaghaft. »Ja, Misi.«
»Ich wollte dir sagen, dass es Erika besser geht. Sie hat die Augen aufgemacht und mit mir geredet.«
Die Nachricht zauberte ein Strahlen in Inikas Gesicht. »Oh, Misi, das ist schön.«
Vor der Hütte erklang Gemurmel. Julies Besuche im Dorf erregten jedes Mal Aufsehen, und jetzt zeigten sich erste neugierige Gesichter im Eingang der Hütte.
Julie trat einen Schritt an Inika heran. »Inika, sag mal, hat es Probleme mit den anderen Indern gegeben?« Sie blickte dem Mädchen tief in die Augen.
Zu Julies Erleichterung schüttelte Inika den Kopf.
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