Die Blume von Surinam
Deck gestanden und beobachtet hatte, wie sich das Festland immer weiter entfernte. Wehmütig hatte sie auf den Schwarm bunter Vögel geblickt, der sie ein Stück auf das Meer hinaus begleitet hatte, hatte die Bäume und das üppige Grün des Ufers verschwinden sehen.Dann war das Schiff allein auf See, hier gab es nichts außer Meer und Wellen, die weiße Schaumkronen vor sich hertrieben. Karini hatte diese Weite durchaus beeindruckt und sie hatte für einen Moment die Augen geschlossen. Egal, was kommen würde, sie würde es meistern.
Misi Gesine wurde im Verlauf der Reise nicht müde zu betonen, dass eine der wenigen positiven Seiten ihres Lebens in Surinam die häufigen Bootsfahrten gewesen waren, durch die sie sich an das Geschaukel, wie sie es ausdrückte, auf dem Wasser gewöhnt hatte. »Karini, du glaubst gar nicht, wie sehr ich auf der Hinfahrt gelitten habe.«
Karini konnte das nicht nachvollziehen. Ob große oder kleine Schiffe, sie selbst war von klein auf daran gewöhnt, mit ihnen zu fahren. Dass es in den Niederlanden weniger Boote, dafür aber umso mehr Pferdewagen geben sollte, daran würde sie sich gewöhnen müssen. Karini kannte Pferdewagen aus Paramaribo, war aber selbst nur wenige Male damit gefahren.
»Wenn wir in den Niederlanden angekommen sind, werden wir dir erst einmal neue Kleider besorgen«, sagte Misi Gesine eines Abends.
Karini zuckte zusammen – hatte sie vielleicht einen Fleck auf ihrem Kleid? Verstohlen sah sie an sich hinunter, konnte aber keinen Makel entdecken. »Was stimmt nicht mit meinen Kleidern?«, fragte sie verwirrt.
Misi Gesine lachte. »Kind, in den Niederlanden trägt man eine andere Mode. Außerdem ist es kalt, du wirst dich wundern. Und Schuhe wirst du auch brauchen.«
Schuhe? Karini hatte, bis auf dünne Sandalen, in ihrem Leben noch nie Schuhe besessen oder getragen. Aber wenn Misi Gesine meinte, sie bräuchte Schuhe, würde sie wohl welche tragen müssen. Aber damit nicht genug.
»Und deine Haare Mädchen, du musst üben, sie hochzustecken. Und das«, Misi Gesine deutete auf den kleinen Anhängeraus dem Zahn eines Jaguars, den Karini trug, »das versteckst du am besten unter deinem Kleid.«
Und so ging es die ganze Reise über weiter. Je näher sie Europa kamen, desto mehr Anweisungen gab Misi Gesine, was Karini zu tun und zu lassen hätte. Karini war verwirrt, sie versuchte sich, so gut es ging, alles zu merken, hatte aber jetzt schon Angst, sich irgendwann einmal falsch zu verhalten. Es schien doch viele Stolperfallen zu geben, und ihr wurde gewahr, dass ihr Leben in den Niederlanden nicht so einfach werden würde wie in Surinam.
Surinam … manchmal, wenn sie allein war, befiel sie eine große Sehnsucht. Das Heimweh nach Rozenburg, nach ihrer Mutter, Misi Juliette, Masra Henry und allen anderen nahm ihr dann fast die Luft zum Atmen. Sie fühlte sich verlassen, wie ein Blatt auf dem Surinamfluss, das nicht wusste, wohin es das Wasser treiben würde. Jedes Mal schimpfte sie im Stillen mit sich selbst. Sie hatte Glück, überhaupt noch am Leben zu sein, und die Chance, die Misi Gesine ihr geboten hatte, war einmalig. Wie viele Mädchen mit ihrem Hintergrund kamen schon in die Niederlande? Karini kannte bisher kein schwarzes Mädchen, das es bis dorthin geschafft hatte.
Nach einer schier endlosen Weile bekam Karini schließlich den ersten Vorgeschmack auf Europa. Die Temperaturen sanken, und es wurde bitterkalt. Karini kam nicht umhin, sich zwei ihrer Kleider übereinander anzuziehen, das waren aber auch schon alle, die sie mitgenommen hatte. Ihre Füße waren durch die Kälte fast taub, so fror Karini.
Kapitel 6
M asra Thijs war erst Ende November wieder so weit genesen, dass er sein Bett für einige Stunden am Tag verlassen konnte. Das schwere Fieber hatte an seinen Kräften gezehrt, und Inika befürchtete ständig, dass ihn die Schwäche doch noch einmal übermannen könnte. Aber ihre Sorge war unbegründet, er wurde von Tag zu Tag kräftiger, und auch Sarina gewann zunehmend an Stärke. Sie besuchte Inika schon im Kochhaus und gab ihr Ratschläge für die Zubereitung des Essens, denn beim Kochen fehlte Inika die Erfahrung. Inika war ihr nicht nur dankbar für diese Hinweise, sie genoss die Nähe ihrer Mutter, auch wenn sie nicht über die Geschehnisse sprachen.
Eine Sache aber irritierte Inika. Sie war nicht dumm, und sie hätte blind sein müssen, nicht zu bemerken, dass Masra Thijs und Sarina einander schon bald häufig Besuche abstatteten. Dann
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