Die Blume von Surinam
»Das ist kein echter Fluss«, wusste der Mann zu berichten, »er wurde von Menschenhand geschaffen. Er ist noch keine zehn Jahre alt, aber schon bedeutend für den Schiffsverkehr!«
Karini interessierten diese Ausführungen nicht sonderlich. Bereits seit einigen Stunden war Land in Sicht, und alles, was sie bisher gesehen hatte, war eintönig grau. Sogar die Vögel waren hier grau. Zudem schrien sie laut und schauten sie mit ihren kleinen Augen böse an, während sie dicht neben dem Schiff herflogen. Anstelle einer Küste, die sanft vom Meer emporstieg und in einem üppigen Regenwald mündete, gab es hier künstliche Wälle – und keine Bäume.
»Das sind Deiche, zum Schutz vor dem Meer«, hatte Misi Gesine ihr erklärt. Karini erinnerte sich, dass schon ihr Lehrer davon gesprochen hatte, verstand aber nicht, warum man zu diesem Zweck so große Wälle brauchte. In Surinam baute man die Häuser einfach auf einen Steinsockel.
Das Meer, die Nordsee , war auch ganz anders als vor Surinam. Es war viel unruhiger. Seit das Schiff den großen Ozean zwischen Surinam und Europa verlassen hatte, an der Insel England vorbeigefahren und dann zu dieser Nordsee gekommen war, wurde es mehr und mehr durchgeschaukelt. Die Gischt, die zuvor nochwie lustige Schaumkronen vor den Wellen aufgestoben war, schlug nun hoch bis über die Reling, und wenn Karini nicht aufpasste, wurde sie nass. Und das Wasser war auch nicht so türkis schillernd wie in Surinam, es war grau, fast schwarz, und schien unfreundlich zu jedem zu sein, der es wagte, mit dem Schiff darauf zu fahren.
Als es zu regnen begann, schickte sich Misi Gesine endlich an, unter Deck zu gehen. Karini spürte ihre Füße kaum noch und der Regen traf sie mit kleinen, nadelspitzen Tropfen. Sie war froh, als sie wieder in der kleinen Kabine waren.
»Misi Gesine? Ist es immer so kalt in den Niederlanden?« Karinis Zähne schlugen aufeinander, ein für sie vollkommen ungewohnter Zustand. Vor allem aber störte sie, dass sie damit nicht aufhören konnte, sosehr sie die Zähne auch aufeinanderpresste.
Misi Gesine lachte. »Nein, Karini, jetzt ist gerade Winter.«
»Also Anfang der Regenzeit?«
Die Misi aber lachte wieder, auch wenn Karini nicht verstand, was daran so lustig war.
»Ja, so in etwa, aber es kann auch Schnee geben. Vielleicht hast du Glück und lernst das dieses Jahr noch kennen.«
Karini wusste nicht recht, ob sie das wollte. Der Lehrer hatte gesagt, dass Schnee aussah wie die Samen vom Seidenwollbaum und auf dem Boden eine weiche Matte bildete. Das klang durchaus schön, aber die Misi hatte ihr erklärt, dass Schnee gefrorenes Wasser war, doch dafür mussten die Temperaturen nun noch weiter sinken. Ihr aber war es jetzt schon zu kalt, es war sogar schon seit Tagen undenkbar, ohne Decke auf der Matte zu schlafen. Misi Gesine hatte ihr netterweise eine besorgt, und nun steckte Karini vorsichtig ihre kalten Füße darunter. Im Moment war sie nicht einmal sicher, ob sie überhaupt jemals wieder warm werden würden.
Am nächsten Tag legte das Schiff im Hafen von Rotterdam an. Karini war fasziniert, dass es direkt bis an den Pier fuhr. Manbrauchte keine kleinen Boote zum Übersetzen. Hier wurde lediglich ein langer Steg an das Schiff gelegt, über den die Passagiere dann an Land gingen. Karini tappte vorsichtig hinter Misi Gesine her. Unter ihr schlug das Wasser an die Kaimauer.
Neugierig sah sie sich um. Auf dem Pier herrschte, wie im ganzen Hafen, ein wildes Durcheinander. Hunderte von Menschen liefen hin und her, trugen Kisten und Koffer. Karini konnte teilweise ihre Gesichter nicht erkennen, so tief hatten die Leute ihre Mützen ins Gesicht gezogen und ihre Kragen bis zu der Nase hochgeschlagen. Es war windig und kalt, ein feuchter Nebel hing über dem Hafen, und Karini zog sich fest den dicken Umhang um die Schultern, den Misi Gesine ihr gegeben hatte. »Hier, Kind, sonst bist du erfroren, bevor wie überhaupt in Amsterdam sind.«
Amsterdam, das lag wiederum an einer ganz anderen Stelle in diesem Land, das hatte Misi Gesine ihr erklärt. Dorthin würden sie mit einer Droschke fahren. Nun ging Misi Gesine auf einen Mann zu, der mit ernster Miene auf dem Kai stand und alles um sich herum wachsam beobachtete, und erkundigte sich nach einer Möglichkeit, eine Droschke zu mieten. Er nickte und zeigte in eine Richtung. Dann winkte Misi Gesine nach zwei Jungen, denen sie auftrug, das Gepäck zu tragen. Karini staunte, als sie bemerkte, dass auch diese Jungen barfuß
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