Die Blume von Surinam
vermochte. Inika mühte sich, beide zu lernen, denn einerseits war sie in ihrem Alltag von Farbigen umgeben, oft genug kamen aber auch Weiße ins Kinderhaus.
Sie würde mit den Weißen sprechen müssen, um zu erfahren, was mit ihren Eltern geschehen war. Ihr Vater hatte ihr auf dem Schiff mehrfach erklärt, dass sie in dieses ferne Land reisten, um dort auf den Plantagen zu arbeiten und viel Geld zu verdienen. Also, vermutete Inika, waren ihre Eltern inzwischen an ihrem Bestimmungsort angekommen. Wo der aber lag und wie groß dieses Land wirklich war, das wusste sie nicht.
Misi Minou lobte Inika jedes Mal, wenn sie ein neues Wort gelernt hatte. Inika freute sich darüber, und schon bald konnte sie allerlei Dinge des Alltags benennen und verstand sogar kurze Sätze. Nur das richtige Wort für Eltern, das fand sie nicht heraus – schließlich gab es in diesem Haus keine.
Erika beobachtete Inika gerne. Sie freute sich über die Lernbereitschaft und die Anpassungsfähigkeit des indischen Mädchens. Das Kind würde es noch schwer genug haben in dieser ihm fremden Welt. Es hatte etwas Ruhiges und Würdevolles in seinem Ausdruck, bewegte sich mit Bedacht und schien immer leicht zu tänzeln. Es war nicht so ungestüm wie die anderen Kinder, rannte nie kopflos drauflos und machte auch die wilden Tobereien im Hof nicht mit. Stattdessen saß es gerne da, beobachtete die anderen Kinder und die Erwachsenen und ahmte deren Sprache nach. Erika schätzte, dass es nicht lange dauern würde, bis man sich mit dem Mädchen ausführlich verständigen konnte.
Der indische Junge tat sich da wesentlich schwerer, er war schüchtern und zurückhaltend und sprach kein Wort. Selbst Inika gelang es nicht, ihn zum Sprechen zu bringen, vielleicht konnte er es einfach nicht. Erika hoffte, dass er eines Tages seine Stimme wiederfinden würde. Sie hatte Inika mehrfach gefragt, ob er ihr Bruder sei, aber das Mädchen hatte stets den Kopf geschüttelt. Der Junge verrichtete die ihm gestellten kleinen Aufgaben im Haus mit Eifer und Zuverlässigkeit und freute sich sichtlich über jedes Lob. Erika hatte ihn zusammen mit Minou aus der Not heraus schließlich Bogo getauft.
Erika schätzte das Mädchen auf zwölf bis dreizehn Jahre, obwohl sein Verhalten und sein Gesichtsausdruck es manchmal schon wie eine kleine Erwachsene wirken ließen. Bei den seltenen Ausflügen in die Stadt hatte Erika aber immer ein besonderesAuge auf Inika. Sie trug die Wickelröcke so, wie sie es aus ihrem Land kannte, eleganter geschlungen als bei den Einheimischen in Surinam, und bedeckte auch ihr Haar in der Öffentlichkeit mit einem Teil des Tuches. Erika war froh darüber, denn das Mädchen trug goldene Ohrringe. Ein kunstvoller Schmuck, der bei anderen Kindern oder gar Erwachsenen sicherlich Begehrlichkeiten geweckt hätte. Das Mädchen legte diesen Schmuck nie ab, er schien eine besondere Bedeutung zu haben. Doch Erika war nicht wohl dabei, dass das Kind so wertvolles Geschmeide trug. Vielleicht war das in seinem Heimatland Sitte und vor allem möglich, aber in Surinam war Gold etwas Besonderes und sprach von einem gewissen Reichtum. Erika hatte gehört, wie einige ehemalige Sklavinnen sich in der Stadt darüber erregt hatten, dass die indischen Arbeiter wohl zu wohlhabend wären, um auf den Plantagen mitzuhelfen; angeblich waren unter ihnen einige Frauen, die mit üppigem Schmuck ausgestattet gewesen waren, und auch die Männer hätten unverhohlen ihr Hab und Gut zur Schau getragen. »Das haben Sie noch nicht gesehen: Goldketten vom Ohr bis zur Nase«, hatte ihr eine Frau auf dem Markt erzählt. Hoffentlich gab es damit auf den Plantagen keine Probleme. Die dort ansässigen ehemaligen Sklaven waren durchweg arm, und Erika fragte sich, nach welchen Kriterien die indischen Arbeiter ausgewählt worden waren.
Sonderbar war auch das Essverhalten der kleinen Inderin. Sie schien kein Fleisch zu mögen. Nicht, dass dies alltäglich auf dem Speiseplan des Kinderhauses stand, aber Minou und Erika versuchten durchaus, ihren heranwachsenden Schützlingen eine ausgewogene Kost anzubieten. Das Mädchen aber verweigerte Fleisch und Fisch mit verwundertem Blick und hielt sich an Obst und Gemüse.
Erika vermutete, dass die Religion auch im Leben der Inder eine wichtige Rolle spielte. Inika hatte in einer Ecke des Zimmers, das sie mit zwei etwas jüngeren farbigen Mädchen teilte,einen kleinen Schrein angelegt. Dort streute sie jeden Tag frische Blüten, die sie zuvor mit einem
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