Die Blumenweberin: Roman (German Edition)
Lebzeiten von Jacquou.
»Guten Morgen, Pierrot«, begrüßte ihn Alix freundlich und machte sich an eine Arbeit, die ihr besonders am Herzen lag.
Alix arbeitete immer eng mit den Werkstätten in Flandern zusammen, das heißt, sie machte einen Teppich, der in Brüssel, Tournai oder Antwerpen begonnen worden war, auf Rechnung des Webermeisters, der ihn in Auftrag gab, fertig und war dann
am Gewinn beteiligt. Oft verkaufte sie die Arbeiten im Val de Loire und gab dann einen Teil des Gewinns an ihren Freund Julio weiter, der streng und mit wachsamem Auge die Rechnungsbücher führte.
»Kannst du deine Fabeltiere einfach so allein lassen? Willst du nicht daran weiterarbeiten, ehe du abreist?«
Sie warf einen Blick auf den Teppich, von dem Mathias sprach.
»Du weißt sehr gut, wie schwierig das wird.«
Dieser Teppich bereitete ihnen tatsächlich große Schwierigkeiten, weil er eine vollkommen andere Struktur verlangte. Man sah darauf eine Reihe von Bäumen, deren zahllose kleine, blaugrüne Blätter mit einem schmalen Streifen Himmel darüber verschmolzen. Am unteren Rand gab es eine grüne Wiese mit Millefleurs. Die übrige Fläche war für die Handlung reserviert.
Und eben die machte es so schwierig. In den verschachtelten Bildaufbau sollten Tiere eingefügt werden, über deren Größe sich Alix und Mathias nicht im Klaren waren. Sie mussten eine neue Fülle an Fabeltieren von spektakulären Ausmaßen übertragen, die nichts mehr mit dem üblichen, oft festgelegten Stil der herkömmlichen Teppiche zu tun hatte.
Die Fabeltiere liefen frei auf der Wiese herum und sahen aus wie wilde Pferde aus einer anderen Welt: Löwen, Elefanten, Straußenvögel, Giraffen und andere wilde Tiere aus Afrika, die sich manchmal domestizieren ließen und dann ganz friedlich wirkten. Manchmal rebellierten sie aber auch und sahen dann furchterregend aus.
Auf dem Teppich, an dem Alix gerade arbeitete, war auf blaurotem Grund eine riesengroße Distel mit ausgebreiteten gezackten Blättern zu sehen. Mit denen griff sie nach einem nackten Zentaur – halb Mensch, halb Tier, während die drei fremdartigen Tiere, die sie mit Hörnern, Fangzähnen, Schnäbeln und gespaltenen Zungen angriffen, Rüstungen trugen. 13)
Die neuen Teppiche lösten die Grotesken ab, die sie zuvor nach den Kartons des Malers Raffael entworfen hatte und jetzt zusammen mit ihnen verkaufte. Die Grotesken , die sie gerade in ihrem Kontor zum Verkauf anbot, waren nach den Skizzen eines jungen Malers, einem Schüler von Raffael namens Giulio Romano, gewebt.
Eine Grosteske wollte Alix auf keinen Fall verkaufen, weil sie als Geschenk für François d’Angoulême zur Thronbesteigung bestimmt war. An dieses Geschenk würde er sich immer erinnern, weil sie darauf das Wappen der Valois und das des Hauses Angoulême unter einem Salamander abgebildet hatte. Der Salamander war sein Wappentier, so wie das Stachelschwein das von König Ludwig XII.
Alix und Mathias hatten ihre Nachforschungen in Sachen Diebstahl also aufgeschoben, um sich erst einmal ganz auf die Kinder zu konzentrieren. Die finsteren Zeiten schienen lange vorbei, und sie erlebten glückliche Tage.
Weil sie so schnell wie möglich heiraten wollten, hatten sie den Vorschlag von Louise, gemeinsam mit ihrem Sohn und Prinzessin Claude Hochzeit zu feiern, höflich abgelehnt. Sie zogen es vor, sich in aller Stille von ihrem Freund, Domherrn André Mirepoix, trauen zu lassen.
Und seit sie nicht nur Tisch, sondern auch Bett teilten, boten sie Nicolas und Valentine zu deren großer Freude das Bild vollkommenen Eheglücks. Nachdem sich Alix und Mathias in der Kirche ewige Liebe und Treue geschworen hatten, herrschte in dem großen Haus an der Place Foire-le-Roi eine angenehme, herzliche Atmosphäre. 14)
Für den jungen Nicolas war die Freude allerdings nicht ganz ungetrübt. Für ihn wäre das Glück vollkommen gewesen, wäre da nicht die Zwillingsschwester von Valentine wie aus dem Nichts aufgetaucht und in sein Leben geplatzt.
Nicolas war das empfindsame, sanfte und zärtliche Wesen von Valentine gewöhnt, und durch den vorwitzigen Neuankömmling war sein Kinderleben ganz aus den Fugen geraten.
Zur Zeit konnte sich Nicolas über alles aufregen: dass er Valentine nicht mehr beschützen und ihre Hand halten konnte, weil ihre Anfälle plötzlich aufgehört hatten; dass er ihr keine Geschichten mehr erzählen konnte, weil sie die Geschichten ihrer Zwillingsschwester selbst erzählte, wobei sie sogar seinen Tonfall
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