Die Blumenweberin: Roman (German Edition)
Szene für die Jungfrauen des Vatikan , einem vierteiligen Ensemble, das Alix vor einigen Jahren begonnen hatte.
»Dem Blick deiner Jungfrau fehlt es an Ausdruckskraft, Philippe. Das musst du noch mal neu machen.«
»Ich wollte, dass sie keusch aussieht, Dame Alix.«
»Sie soll aber gar nicht keusch aussehen, sondern aufmerksam, entschlossen, ja beinahe kühn. Die Jungfrau erwidert den Blick von König Salomon, als er sie auffordert, seinen Palast zu betreten.« 2)
»Aber muss eine Jungfrau denn nicht ein heiteres, friedliches Gesicht haben?«
»Es wird höchste Zeit, dass du den Unterschied zwischen den verschiedenen Figuren, die du auf deinem Webstuhl zum Leben erweckst, kennenlernst, Philippe! Die Frauen, die du hier weben sollst, sind keine Jungfrauen im Sinne von Verkündigung , Christi Geburt oder anderen religiösen Geschichten. Sie sind Musen, unschuldige, unberührte junge Mädchen, also auch Jungfrauen, die aber eines Tages erfahren, was die Männer begehren, und zu Frauen werden.«
Sie deutete auf die Jungfrau, an der Philippe gerade arbeitete.
»Diese hier ist kurz davor, dem Charme von König Salomon zu erliegen, aber sie zögert noch. Sieh dir die Vorlage genau an. Der Mann trägt eine reich bestickte Jacke, Arm und Hand sind ausgestreckt, und mit dem Finger deutet er gebieterisch auf seinen Palast. Er bittet nicht, sondern er befiehlt. Sie muss seiner Begierde mit einem funkelnden Blick begegnen, der dir noch nicht gelungen ist. Also, Philippe, versuch es noch mal.«
Dann wandte sie sich an Grégoire, der aufmerksam zugehört hatte, und sagte: »Vergiss nicht, dass deine Szene Die rebellische Jungfrau heißt. Auch hier geht es nicht um eine fromme Jungfrau. Deine Jungfrau mustert misstrauisch, ja beinahe widerwillig den finsteren Blick von König David. Lass ihre Augen lebhaft leuchten, aber nicht überheblich, dann passt der Gesichtsausdruck zu deiner Figur, und sie wirkt nicht hasserfüllt. Du musst das Verhalten der Frau insgesamt genauer studieren. Schau dir
ihren Mund an, sie schickt sich an, etwas zu sagen, was dem König nicht gefallen dürfte.«
»Warum nicht?«
»Weil David ihr vorwirft, dass sie sich nicht ergibt und dem Wunsch ihres Vaters fügt, der sie einem Mann versprochen hat, den sie nicht will.«
»Warum will sie ihn denn nicht?«
»Das musst du dir schon selbst überlegen. Wenn du es herausgefunden hast, weißt du auch, welchen Gesichtsausdruck du ihr geben musst.«
Der junge Weber nickte, und Alix ging zu den beiden Lehrlingen, die Mathias kürzlich eingestellt hatte. Seit Pierrot ausgelernt hatte, brauchten sie in den Werkstätten neue fleißige Hände für die vielen einfachen Arbeiten, die anfielen.
»Du wirst doch nicht etwa deine Zeit damit verschwenden, Etiennes Arbeit zu verbessern, Arnaude!«, fragte sie ihre gute alte Freundin vorwurfsvoll, »er sollte endlich wissen, wie er die Schussfäden spannen muss.«
»Wenn er sich anstrengt, macht er es schon sehr gut«, mischte sich Mathias ein, der zu ihnen getreten war. »Wenn du bei uns bleiben willst, musst du jetzt aber zeigen, dass du Fortschritte machst, Etienne.«
»Und was ist mit Albin?«, erwiderte der junge Mann mit einem Blick zu seinem Nachbarn, der darauf nicht reagierte.
»Kümmre dich nicht um Albin, sondern um deine eigenen Angelegenheiten. Albin hat noch viel Zeit zu lernen, schließlich ist er zwei Jahre jünger als du.«
Im Laufe der Jahre war Mathias strenger und unnachsichtiger geworden. Bei der Arbeit duldete er keinen Schlendrian und schon gar keine Fehler durch Unlust oder Faulheit. Unbesonnen
oder hastig sollte aber auch nicht gearbeitet werden, weil es sonst leicht an der Perfektion fehlte, durch die sich die wahren Kunstwerke für die Webergilde auszeichneten.
Auch Alix strebte stets nach Vollkommenheit; ein perfekt gewebtes Stück war von hinten genauso schön wie von vorn. In einem Stück gewebte Tapisserien fanden die meisten Liebhaber. Dafür brauchte man allerdings sorgfältig gefärbte Fäden von gleicher Stärke und in besonders schönen Farben. Die Lehrlinge mussten die Fäden sortieren, ordnen, wenn nötig entwirren und bereitlegen. Ein guter Lehrling sollte diese Arbeiten schnell und gewissenhaft erledigen, weil die Weber keine Zeit damit verlieren durften, nach den Fäden und der Wolle zu suchen, die sie gerade brauchten.
Alix und Mathias kamen aus derselben Schule, in der gute und schnelle Ergebnisse oberstes Gebot waren. Keiner von beiden – und auch nicht Jacquou
Weitere Kostenlose Bücher