Die Blut-Loge
T-Shirt konnte Leon die kühle Haut des Freundes fühlen. Mehr nicht. Kein Herzschlag. Diese Tatsache wurde Leon mit einem Male bewusst, und er zog erschrocken seine Hand zurück.
„Was bist du?“, wollte er wissen.
„Ein Untoter“, gab Jerome zur Antwort. Es blieb für ein paar Minuten still im Raum. In Leons Gedanken wurden damit so einige Fragen beantwortet, andere blieben offen und neue wurden gestellt.
„Wie…, ich meine, ich dachte, ihr seid Ungeheuer, die sich nur von Blut ernähren, aber du hast mit uns gelebt, mit uns am Tisch gesessen und …“
„… nichts gegessen, wenn du dich erinnern kannst. Ein paar Drinks kann ich dagegen schon vertragen, allerdings haben die keine Wirkung auf mich. Das Blut hingegen ist lebenswichtig. Aber wir schlafen schon lange nicht mehr in Särgen, fürchten keine Kruzifixe und verstecken uns nicht am Tage“, vollendete Jerome den Satz. In seinen schönen Augen war ein Leuchten aus der Tiefe aufgetaucht.
„Du kannst dich jetzt entscheiden, ob du meine Welt betreten willst, oder dieses Haus für immer verlässt. Dann bleiben wir Kollegen, und du wirst dich an nichts erinnern, was hier gesprochen wurde, dafür würde ich sorgen“, fügte er hinzu. Das war ein letztes Ultimatum.
Leon starrte ihn an, versank in diesen magnetischen Augen. Ewige Jugend, ewiges Leben, wie verlockend das klang, und bei Jerome sah es so einfach aus. Er brauchte keinen Schlaf, konnte sich bei Tag und Nacht bewegen. Leon Henning mit seinen zweiundzwanzig Jahren betrachtete die Welt der Untoten aus einer naiv-romantischen Perspektive, was Jeromes Plänen sehr entgegen kam. Eine weitere Frage tauchte in Leons Gedanken auf.
„Würde ich dann auch so großartig auf der Bühne sein können wie du?“, fragte er Jerome mit einem fast kindlichen Strahlen in den blauen Augen.
Dieser lächelte wieder. „Nein, das ist eine Fähigkeit, die man sich aneignen muss. Die Gestaltwandlung ist jedem von uns gegeben, allerdings nur in die von Tieren. Ich habe sie zu einer wahren Kunst gemacht.“ Voller Stolz gab er diese Antwort. „Aber vielleicht kannst auch du diese Perfektion einmal erreichen“, lockte er dann mit leiser Stimme.
Jerome spürte, das Leon hin- und hergerissen war. Und dieser wusste, dass Jerome ihm dieses Angebot kein zweites Mal machen würde.
„Musst du jedes Mal einen Menschen töten?“, stellte er ihm nun die letzte Frage, die ihn quälte.
Der junge Vampir schüttelte den Kopf. „Nicht doch, wir haben Möglichkeiten, sie zur Ader zu lassen, ohne zu töten. Sie erinnern sich nicht einmal mehr daran.“ Allerdings erinnerte sich Jerome gerade an das tote Mädchen im Hamburger Containerhafen. Ein übles Missgeschick, das er sich so schnell nicht verzeihen würde. Er verdrängte den Gedanken rasch wieder.
Leon war inzwischen aufgestanden und lief im Zimmer umher. Schließlich hielt er inne und blickte Jerome an. „Dann tu es!“, forderte er ihn mit einem tiefen Atemzug auf.
Jetzt erhob sich auch Jerome. „Unter einer Bedingung“, gab dieser zur Antwort. „Laura gehört mir. Du rührst sie nicht an.“
„Natürlich nicht, was denkst du von mir“, rief Leon empört aus. „Ich würde meiner Schwester nie etwas antun! - Aber du vermutlich“, fügte er nach einer Weile zögernd hinzu und blickte den Vampir besorgt an.
„Sie weiß von nichts, aber ich werde auch ihr gegenüber fair sein, wenn es so weit ist, das verspreche ich dir“, erwiderte Jerome ausweichend, als er sich Leon näherte wie eine Spinne der Fliege in ihrem Netz.
Inzwischen war es Abend geworden und die tief stehende Sonne warf ein strahlend goldenes Licht in das Zimmer, das gefiltert wurde von den bodenlangen weißen Organzavorhängen am Fenster.
Wie in einem dieser kitschigen Filme. Ein schöner Tag zum Sterben, dachte Leon noch, als ihn Jeromes Arme umfingen – wonach er sich früher so oft gesehnt hatte - und dieser die Fangzähne in seinen Hals schlug.
* * *
Auch wenn Laura Henning ihren Urlaub mit dem Annähen von Pailletten und dem Organisieren der Kostümwechsel während der Auftritte verbrachte, so waren ihre Gedanken trotz aller Hektik ständig bei Jerome. Abends, während der Travestieshow, erkannte sie Jerome in seinen verschiedenen Identitäten fast nicht wieder. Wie konnte ein so gut aussehender Mann sich ständig in andere Frauengestalten verwandeln? Außerhalb der Bühne machte er einen ganz „normalen“ Eindruck. Würde sie mit so einem außergewöhnlichen Künstler
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