Die Blut-Loge
nahm sie sich keine Zeit. Sie ließ sich das Essen für den Jungen einpacken.
Die meiste Zeit spielte dieser mit seinem Stofftier, und nach Einbruch der Dunkelheit schlief er friedlich auf dem Rücksitz. Estelle hatte die Sonnenbrille abgenommen. Bei Nacht konnte sie hervorragend sehen. Sie kamen an einem kleinen Dorf vorbei und an einem mit Kreuzen übersäten Friedhof. Eine weißgetünchte Kirche hob sich schemenhaft aus der Dunkelheit ab. Endlich eine Kirche, die nicht mitten in einer Ortschaft stand!
Estelle wusste nicht, ob Ruben bereits auf der Suche nach ihr war. Sie wusste nur, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Hektisch öffnete sie die hintere Tür des Wagens und zerrte den verschlafenen kleinen Jungen vom Sitz. Sie trug ihn auf ihren Armen in die Kirche, deren zweiflügelige Holztür nur durch einen Querbalken verschlossen war und sich leicht öffnen ließ. Zunächst zögernd betrat sie das Gotteshaus. Doch sie spürte, dass keinerlei Gefahr für sie als Vampirin davon ausging. Der Anblick eines Kreuzes fügte ihr keinen Schaden zu.
‚Ich hätte mir diese blöden Draculafilme früher nicht angucken sollen. Alles Quatsch’, dachte sie. Tief sog sie den Duft nach Weihrauch und Kerzen ein. Ein längst vergessenes Gefühl von Geborgenheit und Frieden überkam sie. Aber wo sollte sie mitten in der Nacht einen Priester für eine Zeremonie herbekommen? Dumpf erinnerte sie sich an den Religionsunterricht, dem sie als Kind beiwohnte. Jeder Christ durfte doch taufen, oder etwa nicht? Aber war sie noch eine Christin? Hatte Gott sie nicht längst verlassen? Als Vampir besaß sie doch gar keine Seele mehr, oder?
‚Einen Versuch ist es wert’, dachte sie und ging zum Weihwasserbecken an der Türe. Aber hier zuckte sie zurück. Das Wasser durfte sie bestimmt nicht berühren! Geweihtes Wasser war auf alle Fälle für Vampire ungesund. „Verdammt!“, fluchte sie laut und blickte sich verzweifelt um. Bela wurde langsam unruhig auf ihrem Arm. Er war müde und quengelig.
„Nur noch einen kleinen Augenblick, mein Schatz“, murmelte Estelle beruhigend. Sie nahm dem Kleinen den Stoffdrachen aus den Händen, tauchte dessen Schwanz in das Weihwasserbecken und ließ einige Tropfen auf das Haupt ihres Sohnes fallen.
„Hiermit taufe ich dich auf den Namen Bela Darius Fischer. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sagte sie laut und deutlich und blickte flehend auf das Altarkreuz. Darius war der Name ihres eigenen Vaters gewesen. Ein anderer war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen.
Dann setzte sie den Kleinen auf eine Kirchenbank. „Sprich mir jetzt alles nach, mein Schatz, hörst du?“ Estelles Stimme klang eindringlich und bittend. Der Sechsjährige nickte eingeschüchtert. Langsam und geduldig lehrte sie den Jungen das Vaterunser.
Nach einer halben Stunde war Bela eingeschlafen und lag eingerollt auf der Kirchenbank. Estelle hatte ihr Schaltuch unter sein Köpfchen geschoben. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Ich muss jetzt gehen, mein Liebling. Du darfst nicht mehr bei mir sein. Das wäre viel zu gefährlich. Ich hoffe, dass hier gute Menschen leben, die sich um dich kümmern werden. Wenn Dr. Hadley Recht hatte, dann bist du jetzt frei vom Bann der Loge. Ich liebe dich.“
Sie strich zum Abschied noch einmal über sein Haar, verließ dann leise die Kirche, schloss das Holzportal hinter sich und eilte zum Wagen.
Sie blickte sich noch einmal um.
Sollte sie abwarten, bis jemand das Kind in der Kirche finden würde? Lieber auf Nummer Sicher gehen! Suchend schaute sie sich auf dem Boden um, hob ein paar Kieselsteine auf und ging auf die andere Seite der Kirche zum Glockenturm. Ein, zwei Versuche gingen ins Leere, dann traf einer der Steine und ein heller Ton durchdrang die wüstenhafte Stille des kleinen Dorfes. In den umliegenden Häusern gingen einige Lichter an. Erst jetzt lief sie zurück zum Auto und fuhr davon. Wenn sie noch hätte weinen können…
Ruben Stark kochte vor Wut. Zunächst hatte er die ohnmächtige Valerie gefunden, die aufgrund der Überdosis der Droge erst langsam wieder zu sich kam und wie von Fieberschauern geschüttelt wurde. Nachdem er das leere Haus durchsucht hatte, war ihm klar geworden, was geschehen sein musste. Dummerweise hatte er Estelle niemals zugetraut, dass sie so eine Aktion tagsüber durchführen würde. Und dazu noch ohne Unterstützung! Etwas von der alten Polizistin musste noch in ihr vorhanden sein. Hätte er doch nur auf
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