Die blutende Statue
Huygens habe die Entdeckung der Saturnringe einfach abgeschrieben, als er während eines Besuchs bei Pascal ebendiesen Brief entdeckt hatte.
Nun waren wiederum die Niederländer erbost, weil man ihren nationalen Gelehrten um seine Entdeckung gebracht hatte. Auch die Italiener irritierte es, dass man so unbekümmert mit ihrem Galileo Galilei umsprang. In den nächsten drei Monaten folgte eine endlose Polemik, da sich Chasles durch keinen Einwand aus der Fassung bringen ließ, sondern ständig neue Briefe vorlegte. Schließlich setzte der berühmte Astronom Le Verrier, einer der wenigen, die von Anfang an skeptisch gewesen waren, am 26. Oktober 1869 ein Votum seiner Kollegen durch, in dem sich »die Akademie offiziell von allen Anachronismen und Unglaubwürdigkeiten, die in den Briefen von Monsieur Chasles enthalten sind, distanziert«.
Zum ersten Mal wurde Chasles’ Selbstvertrauen erschüttert. Mehrere Freunde überredeten ihn, Anzeige zu erstatten. Das tat er auch, allerdings nicht wegen Betrugs. Er wollte Vrain-Lucas verhaften lassen, weil er von ihm dreitausend weitere Dokumente verlangt hatte, die dieser aber einfach nicht lieferte. Er argwöhnte, die ganzen Ereignisse könnten Vrain-Lucas so erschreckt haben, dass er mit seinen Schätzen davonlief.
»Ich befürchte«, erläuterte er dem Kommissar, »dass er Dokumente von unschätzbarem Wert ins Ausland verkauft.«
Vrain-Lucas wurde verhaftet. Dazu muss man sagen, dass er sich keineswegs versteckte, obwohl die Affäre schon gewaltige Ausmaße angenommen hatte. Täglich ging er in die Nationalbibliothek, die damals noch Kaiserliche Bibliothek hieß, um dort Informationen über den Briefwechsel Galileos oder Pascals aufzuspüren oder um Papier für seine Briefe zu stehlen. Dazu riss er aus alten Büchern die Vorsatzblätter heraus. Auf einmal entdeckte die verdutzte Öffentlichkeit das ganze Ausmaß dieses Betrugs. Chasles hatte ihm über siebenundzwanzigtausend Briefe abgekauft, die von sechshundertsechzig historischen Persönlichkeiten stammten. Als sie in der Zeitung veröffentlicht wurden, rief das schallendes Gelächter hervor.
Das Verfahren begann. Nach der Vorgeschichte war der Prozess ein wenig enttäuschend. Im Vergleich zu der ganzen Affäre wirkte die Persönlichkeit des Fälschers banal. Vrain-Lucas war wirklich 1818 in Lanneray bei Châteaudun geboren, ein Umstand, der in der ganzen Geschichte eine große Rolle gespielt hatte. Als Sohn armer Bauern musste er zunächst auf dem Feld arbeiten. Er war jedoch ehrgeizig, bildete sich selbst weiter und brachte es schließlich zum Amtsschreiber in Châteaudun. Doch das genügte ihm nicht. Er zog nach Paris und bewarb sich um einen Posten in der Kaiserlichen Bibliothek, den er allerdings nicht bekam, weil man dafür das Abitur brauchte.
Danach schlug er sich als Kundenwerber für eine genealogische Gesellschaft durch. Da ihm eine Menge Freizeit blieb, besuchte er eifrig alle Bibliotheken und begann zum Spaß, alte Unterschriften nachzuahmen. Dann lernte er seinen »Landsmann« Chasles kennen, es kam zum Brief von Molière und allem Übrigen... Seine Fälschungen schrieb er auf Büttenpapier, das er über einer Kerzenflamme schwärzte.
In seiner Aussage behauptete Vrain-Lucas — und wir haben keinen Grund, ihm nicht zu glauben — , die Idee zu dieser ganzen Betrugsgeschichte stamme zwar von ihm, aber die Schuld dafür, dass sie so ausgeufert sei, sei einzig und allein bei dem Gelehrten zu suchen. Der habe ihn sozusagen zum Weitermachen gezwungen. »Er ließ nicht locker, bis ich mich verpflichtet habe, ihm weitere Dokumente zu beschaffen. Er gab mir sogar eine lange Liste von Persönlichkeiten, von denen er sich sehnsüchtigst Briefe wünschte. Er sagte, wenn ich sie ihm liefere, wolle er daraus ein Buch zusammenstellen und es veröffentlichen.«
Zu seiner Verteidigung brachte der Fälscher schließlich sein bestes Argument vor: »Selbst wenn so ein Buch in gewissem Sinne apokryph gewesen wäre, hätte es zumindest den Verdienst gehabt, meinen Landsleuten eine Einführung in die Geschichte zu geben, und hätte demzufolge dem Fortschritt des menschlichen Wissens gedient.«
Der Prozess gegen Vrain-Lucas wurde am 24. Februar 1870 eröffnet. Der bebrillte, bucklige und glatzköpfige Angeklagte sah eher wie ein durchtriebener Bauer aus und machte nicht viel her. Aber schließlich war das Publikum, das sich in einem riesigen Knäuel hereindrängte, nicht gekommen, um ihn zu sehen. Die Leute kamen wegen des
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