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Die blutende Statue

Die blutende Statue

Titel: Die blutende Statue Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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der alte Monsieur etwas.«
    Dieses »Etwas genau zu dem Thema« brachte Michel Chasles seinen Mitakademikern anlässlich der Sitzung vom 31. Juli mit und es schlug ein wie eine Bombe! Es handelte sich wieder um einen Brief von Pascal, der diesmal an den jungen Newton adressiert war. Der französische Gelehrte, der nach eigener Aussage das Gesetz der universellen Gravitation entdeckt hatte, war so freundlich, es seinem Korrespondenten in großen Zügen zu beschreiben. Zum Schluss fügte er noch ein paar väterlich gemeinte Ratschläge hinzu: »Mein junger Freund, ich habe vernommen, mit welcher Gewissenhaftigkeit Sie sich bemühen, in die Wissenschaft der Mathematik und Geometrie einzudringen. Darum schicke ich Ihnen verschiedene Probleme bezüglich der Gesetze der Fluxionsrechnungen, die früher einmal Gegenstand meines Interesses waren, damit Sie an ihnen Ihr Genie schulen können. [...] Arbeiten Sie, studieren Sie, nur tun Sie das mit Maß. Dies ist der beste Weg, aus erworbenem Wissen Nutzen zu ziehen. Dabei spreche ich aus Erfahrung.«
    Damit änderte sich alles. Von einem Tag auf den anderen zog die Affäre nun landesweit oder vielmehr international Kreise. Sie wurde fast zu einer Staatsaffäre. Seltsamerweise ging der Chauvinismus der französischen Akademie der Wissenschaften so weit, dass sie mehrheitlich erklärte, sie halte diese verblüffende Neuigkeit für glaubwürdig. Demnach hatte nicht Isaac Newton das Gravitationsgesetz entdeckt, sondern schon Blaise Pascal vierzig Jahre zuvor. Im Grunde rächte das die Franzosen ein wenig für die ganze Schmach, die die Engländer ihnen seit Jeanne d'Arc angetan hatten.
    Natürlich herrschte auf der anderen Seite des Ärmelkanals Bestürzung und Empörung. Die Akademie von Edinburgh sprach von einer »elenden Fälschung«. Sir David Brewster, der Verfasser von Newtons Biografie, schrieb der französischen Akademie auf typisch britische Weise: »Nachdem ich alle Papiere und die gesamte Korrespondenz von Sir Isaac Newton, die in Hurtsbourne Park, dem Wohnsitz seiner Familie, aufbewahrt werden, genauestens durchforscht habe, kann ich versichern, dass ein Briefwechsel zwischen Pascal und Newton nie existiert hat. Die beiden berühmten Wissenschaftler haben sich nie kennengelernt. 1654 war Newton erst elf Jahre alt und beschäftigte sich auf eine Art, die seinem Alter besser entsprach, nämlich mit Drachenfliegen, kleinen Windmühlen und Sonnenuhren.«
    Das Argument entbehrt natürlich nicht der Logik. Wenn man nämlich einmal entgegen jeder Lehrmeinung annimmt, Pascal habe das Gravitationsgesetz vor seiner Zeit entdeckt, muss man sich fragen, warum er das ausgerechnet einem kleinen Bengel auf der anderen Seite des Ärmelkanals anvertraut haben soll. Michel Chasles war dies alles furchtbar peinlich. Er hatte weder mit so viel Aufsehen noch mit so großer Feindseligkeit gerechnet. Doch da kam wieder einmal Vrain-Lucas wie gerufen.
    »Ich glaube, der alte Monsieur hat darauf eine Antwort.«
    Die Antwort war tatsächlich bemerkenswert und erlaubte dem Geometer, einen mächtigen Gegenangriff zu starten. Er legte der Akademie einen Brief von Mrs Newton an Pascals Mutter vor, in dem diese »für die große Liebenswürdigkeit, die er ihrem Sohn erwiesen hat«, dankte. Da die Kritiken trotzdem nicht verstummten, kam schließlich auch noch die andere Mama zu Hilfe. Chasles las kurz darauf einen Brief von Mutter Pascal an Saint-Evremond, in dem sie diesem anvertraut, wie stolz sie darauf sei, dass ihr kleiner Blaise das Gravitationsgesetz entdeckt habe.
    Die Kontroverse hatte bereits gewaltige Ausmaße angenommen, sollte aber noch zu einem regelrechten europäischen Konflikt auswachsen! Mehrere Gelehrte wiesen nach, dass Pascal beim Stand der astronomischen Kenntnisse seiner Zeit auf gar keinen Fall das Gravitationsgesetz entdeckt haben konnte. Dies war nicht weiter tragisch, der alte Monsieur hatte »die Antwort darauf« und Chasles antwortete. Er legte Briefe von Galileo an Pascal vor, die auf das Jahr 1641 datiert waren und in denen ihm der Italiener das nötige astronomische Wissen preisgab. Das führte zu einem Sturm der Entrüstung unter den Astronomen. In seinen Briefen erwähnte Galileo die Saturnringe, die erst fünfzehn Jahre später von dem Holländer Huygens entdeckt wurden. Außerdem war er damals bereits seit vier Jahren blind und konnte gar nicht mehr schreiben. Chasles erwiderte, Galileo habe nur vorgegeben, blind zu sein, um die Inquisition zu täuschen, und

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