Die blutende Statue
ergreifen sind, um die Engländer aus Frankreich zu vertreiben, und ich erzählte ihm einen rätselhaften Traum, der mir gekommen war. Er hat begriffen, was ich vorhabe, und mir den Befehl über seine Truppen übertragen.«
Man kann hier nicht alle Dokumente zitieren, dazu sind es zu viele. Deshalb also kunterbunt herausgegriffen, ohne auf die chronologische Reihenfolge zu achten, ein Brief von Christoph Kolumbus an Rabelais, in dem Ersterer erzählt, was er in Amerika gesehen hat; ein paar rührende Zeilen von Héloïse an Abélard, in dem diese ihn »meinen süßen Freund« nennt und sich über die ihm zugefügte grausame Verstümmelung beklagt; ein Bittschreiben, in dem Maria von Medici den Papst anfleht, Galileo zu begnadigen; eine mit »Attila« unterzeichnete Erklärung, die zwar hitzig und bedrohlich klingt, jedoch beweist, dass der Hunnenführer gar kein so großer Barbar war, weil er Französisch sprach, übrigens genauso wie Archimedes, König Dagobert, Karl der Große und Shakespeare; ein Hilfegesuch an Vincent de Paul, in dem ein Bedürftiger Vincent mit »Heiliger« anredet, als sei er schon zu Lebzeiten heilig gesprochen worden, usw.
Auffällig ist, dass die Sammlung des »alten Monsieur« besonders reichhaltig war, was die Epoche von Jesus Christus anging. Sie enthielt zwei Briefe eines gewissen Julius Graccinus an Christus persönlich, einen Brief von Judas, in dem dieser um Verzeihung für seinen Verrat bittet, und einen weiteren von Pontius Pilatus. Am verblüffendsten war zweifellos ein Brief von Lazarus an Petrus, der auf den 10. August des Jahres 47 nach Christus datiert war. Er wurde in Marseille aufgegeben, weil Lazarus gleich nach seiner Wiederauferweckung durch Jesus ein Schiff nach Frankreich bestiegen hatte. Leider berichtet er nicht, ob er dort einem Enkel von Cäsarion begegnet ist.
Für diese Meisterwerke gab Michel Chasles insgesamt hundertfünfzigtausend Franc in Gold aus, ein Vermögen! Und nie kam ihm auch nur der geringste Verdacht. Hin und wieder stritt er sich zwar mit seinem Landsmann Vrain-Lucas, aber ausschließlich, weil Letzterer nicht schnell genug lieferte. Einmal kam es fast zum Bruch. Vrain-Lucas rief wütend: »Wenn Sie nicht zufrieden sind, geben Sie mir meine Papiere zurück, dann erstatte ich Ihnen Ihr Geld!«
Hastig machte der Gelehrte einen Rückzieher.
»Aber ich bitte Sie! Ich sage nichts mehr. Diese Dokumente liegen mir viel zu sehr am Herzen.« Wahrscheinlich wäre dem Fälscher nichts passiert, wäre sein Opfer nicht Mitglied der Akademie gewesen. Nun war Michel Chasles aber von Natur aus großzügig. Solche Schätze wollte er nicht für sich allein behalten. Er fühlte sich geradezu verpflichtet, alle Kollegen an diesen Entdeckungen teilhaben zu lassen.
Er begann mit den ausländischen Akademien. Zum sechshundertsten Geburtstag Dantes überreichte er den Florentinern einen Text des Dichters. Man dankte ihm wärmstens, ohne sich darüber zu wundern, dass Dante auf Französisch geschrieben hatte. Als ihn kurz darauf die Akademie von Brüssel in ihre Reihen aufnahm, schenkte er ihr zum Dank zwei Briefe von Kaiser Karl V. an Rabelais.
Diese Korrespondenz war, gelinde gesagt, seltsam. Im ersten Brief bat der Kaiser den Schriftsteller, das Problem der Quadratur des Kreises zu lösen. Da sich Rabelais aber nicht einmal die Mühe gab zu antworten, wirkte Karl V. im zweiten Schreiben stark irritiert. Über diese Texte, die ganz nach einem Studentenulk rochen, wunderte sich niemand. Ganz im Gegenteil, man hob sie sorgsam im Archiv der Akademie von Brüssel auf.
Aber Chasles vergaß auch seine Kollegen von der französischen Akademie der Wissenschaften nicht und überreichte ihnen am 15. Juni 1869 zwei Briefe von Pascal an den Chemiker Robert Boyle. Diese riefen allerdings große Aufregung und Verblüffung unter den Akademikern hervor, weil Blaise Pascal in ihnen mathematische Formeln benutzte, die zu seiner Zeit noch nicht bekannt waren. Skeptische Äußerungen wurden laut. Einer erklärte sogar kategorisch: »Die Notizen, die Sie Pascal zuschreiben, wurden offenkundig aus einem modernen Traktat kopiert.«
Michel Chasles war nicht erschüttert, sondern lediglich irritiert, weil er selbst felsenfest von der Echtheit seiner Dokumente überzeugt war. Er brauchte nur noch mehr, um ihnen größeres Gewicht zu verleihen. Darum ließ er Vrain-Lucas kommen, um ihm sein Problem zu erläutern. Letzterer lächelte.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Genau zu dem Thema hat
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